Leseprobe "Tödliches Herz"

 

 
Prolog


   Das Motorrad jagte mit fast 160 km/h über die Bundesstraße. Die Dunkelheit lag über der Landschaft wie schwarzer Samt. Nur am Horizont zeigte sich das erste Licht des anbrechenden Morgens. Bis auf die Leitpfosten entlang der Straße, die das Licht des Scheinwerfers reflektierten, bot nichts dem Motorradfahrer Orientierung. Es waren um diese Zeit kaum Fahrzeuge unterwegs. Gelegentlich kam dem Motorradfahrer ein Auto entgegen, das ihn blendete, bis der andere Fahrer das Fernlicht endlich deaktivierte. Der Motorradfahrer spürte, wie sich die Kälte in seine Kleidung fraß. Er musste sich in Sicherheit bringen. Er wagte es bei der Geschwindigkeit nicht, einen Blick über die Schulter zu werfen. Ohne Gewissheit zu haben, wusste er, dass es nur eine Zeitfrage war, bis sie ihm folgen würden. Er war aufgeflogen. Einfach, weil er einen Moment lang unachtsam gewesen war. Er hätte sein Mobiltelefon nicht so offen liegenlassen dürfen. Nicht ohne vorher alle Nachrichten zu löschen, die er seinem Kontaktmann übermittelt hatte. 
    Wie hatte er nur so leichtsinnig sein können?
    Als er mit einem frischen Bier in der Hand vom Tresen zum Tisch zurückgekehrt war, hatte sich die Atmosphäre verändert. Ihm war nicht entgangen, wie sie ihn angeblickt hatten. Arglistig. Voller Misstrauen. Sein Mobiltelefon war auf dem Tisch gelegen. Das Licht des Displays erlosch gerade. Jemand hatte sich etwas auf seinem Telefon angesehen. Er unterdrückte den Impuls, das Gesicht zu verziehen. Stattdessen stellte er sein Bier auf dem Tisch ab und lächelte.
   Er war es gewohnt, schnell zu reagieren. So lässig wie möglich bat er einen von ihnen, auf sein Bier zu achten. Er müsste kurz zur Toilette. „Aber sauf es mir nicht weg, ja?“, hatte er noch hinzugefügt, obwohl ihm das Herz bis zum Hals geschlagen hatte.
   Dann war er vermeintlich auf die Toilette zugesteuert, aber kurz davor links abgebogen. Hier gab es einen Hinterausgang. Zum Glück steckte sein Schlüsselbund in seiner Jeans. Die Jacke hing noch im Lokal über der Lehne des Stuhls, auf dem er gesessen hatte. Das würde wohl frisch bei der Fahrt werden!
   Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, steuerte er auf seine BMW zu, setzte den Helm auf, steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete die Maschine. Dann fuhr er vom Parkplatz auf die Bundesstraße und Richtung Stadt. Er musste zu seinem Kontaktmann. Der war seine einzige Chance, heil aus dieser Nummer herauszukommen. Und er musste sich beeilen. Sie würden nicht lange brauchen, um zu merken, dass er nicht auf die Toilette verschwunden war. Als es leicht zu regnen begann, musste er die Geschwindigkeit deutlich drosseln. Er hoffte, dass er noch ausreichend Vorsprung hatte.
   Plötzlich tauchten hinter ihm die Scheinwerfer eines Fahrzeugs auf. Er spürte, wie sein Puls schneller schlug. Seine Hände wurden feucht, obwohl sie eiskalt waren. Die Handschuhe steckten in seiner Jackentasche. Das Fahrzeug überholte ihn. Es war ein dunkler Lieferwagen. Er konnte die Aufschrift nicht entziffern. Erleichtert atmete er aus, als der Wagen Abstand zu ihm gewann.
   In diesem Augenblick leuchteten die Bremslichter des Lieferwagens auf. Der Wagen stellte sich mit quietschenden Reifen auf der Fahrbahn quer. Der Motorradfahrer bremste ebenfalls, doch es gelang ihm nicht mehr, dem Fahrzeug auszuweichen. Mit einem hässlichen Knall prallte er mit seiner BMW gegen den Wagen und segelte über das Dach des Fahrzeugs und kam am Straßenrand zum Liegen. Im Schock fühlte er keine Schmerzen. Verzweifelt versuchte er, sich den Helm vom Kopf zu zerren, doch es gelang ihm nur, das Visier zu öffnen. 
   Der Fahrer des Lieferwagens stieg aus dem Fahrzeug. Der Motorradfahrer wollte schreien, doch drang kein Laut aus seiner Kehle. Auch nicht, als der Fahrer auf ihn zuging und neben ihm niederkniete. Der Motorradfahrer erkannte das Tattoo der Bande am Hals des Mannes. Sein letzter Gedanke galt seiner Mutter. Dann zog der Fahrer eine Glock aus seinem Hosenbund und schoss dem Motorradfahrer ins Gesicht. 
   „Es ist erledigt. Beeilt euch, wenn er noch einen Zweck erfüllen soll“, bellte der Fahrer des Lieferwagens in sein Mobiltelefon. Damit stieg er in seinen Wagen und fuhr davon. Am Firmament kündigte sich der neue Morgen in rosa Farbtönen an.


Felix

Der Tag des Angriffs 


   Der Fernseher flimmerte in dem abgedunkelten Raum, in dem Felix schon so oft übernachtet hatte. Er wartete auf den Beginn von ‚Die Simpsons‘, eine seiner Lieblingsserien, während er sich ein paar Reels auf Instagram ansah. Einer seiner Schulkollegen hatte ein Video von seinem Fußballtraining gepostet. Felix klickte auf das Herz, um zu signalisieren, dass ihm der Beitrag gefiel. Felix warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon spät. Er sollte seiner Mutter eine Nachricht schreiben und sie wissen lassen, dass er heute bei seinem Vater übernachten würde. Er hatte spontan bei seinem Papa vorbeigeschaut und ihn gefragt, ob er diese Nacht dortbleiben könnte. Mama arbeitete etwas länger und er hatte keine Lust, den Abend alleine zu verbringen. Er schob sein iPhone in die Gesäßtasche seiner Jeans. Er hatte das Telefon zu seinem zehnten Geburtstag von seinen Großeltern bekommen. Seine Mutter hatte erst gegen das teure Geschenk protestiert, schließlich hatten sich jedoch seine Großeltern und Felix‘ hartnäckiges Betteln durchgesetzt.
   Er hörte leise Geräusche aus der Küche. Sein Vater räumte wahrscheinlich gerade die Geschirrspülmaschine aus. Er vernahm das Klappern von Tellern, Besteck und Schubladen, die sich öffneten und wieder schlossen. Einen kurzen Moment lang hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er ihm dabei nicht half. Doch dann siegte die Faulheit. Felix gähnte herzhaft und blickte zum Fernseher, wo der Vorspann seiner Lieblingsserie lief. 
   Es klingelte an der Tür. Felix fragte sich, ob sein Vater jemanden erwartete. Er hatte jedenfalls nichts dergleichen erwähnt. Die Tür fiel ins Schloss. Felix hörte die Stimme einer Frau. Er glaubte nicht, dass er sie kannte. Sein Vater sagte etwas zu seinem Gast. Es klang barsch, ganz anders, als wenn er mit Felix sprach, fast als hätten die beiden einen Streit. Felix stand auf und öffnete die Schlafzimmertür einen Spaltbreit. Von hier konnte er den Vorraum und das Wohnzimmer sehen. Sein Vater und die Frau waren in der Küche. Auf der anderen Seite des Gangs lagen die Abstellkammer und das Badezimmer. Er lauschte einen Augenblick, bekam aber nur Wortfetzen von der Auseinandersetzung mit. Er hörte, wie die Frau ‚Luis‘ erwähnte. Felix dachte an seinen kleinen Cousin, der ebenfalls so hieß. Sein Onkel Markus und seine Tante Vera waren kürzlich verstorben. Ein Unfall, hatte Papa ihm erklärt. Felix‘ kleine Cousine Elsa war ebenfalls tot. Ermordet. Die ganze Stadt hatte vor einigen Wochen davon gesprochen. Die Nachrichten waren voll gewesen von Meldungen über Elsas Tod. Seine Mutter hatte versucht, die Geschichte von ihm fernzuhalten, damit er nachts schlafen konnte, aber er war längst kein Kleinkind mehr. Er verstand schon, dass es auf dieser Welt Böses gab, dass es Menschen gab, die anderen wehtaten. 
   Der Streit in der Küche wurde heftiger. Felix überlegte, ob er hinübergehen und die Auseinandersetzung unterbrechen sollte. Er mochte es nicht, wenn Erwachsene stritten. Es erinnerte ihn an die Zeit, bevor Mama Papa verlassen hatte und seine Welt zerbrochen war. Noch heute träumte er manchmal davon, dass seine Eltern sich versöhnen und wieder zusammenziehen würden.
   Es klopfte an der Tür. Felix stutzte. Noch mehr Besuch? Das Klopfen wurde heftiger, dann folgte ein energisches Klingeln. Die Frau sprach leise mit seinem Vater. Er konnte sie nicht verstehen. Felix drehte den Fernseher auf stumm. Er blieb im Schneidersitz auf dem Bett sitzen und wartete. Jemand rüttelte am Türgriff. Felix spürte, wie sein Puls beschleunigte. Wer tat so etwas? Mit einem Mal flog die Tür  krachend auf. Felix hörte einen Schrei aus dem Vorzimmer, dann etwas, was nach einem Kampf klang. 
   Felix wagte kaum, zu atmen. 
Sein Vater brüllte etwas. Die Frau gab einen Laut von sich, der klang, als würde sie all ihre Kraft bündeln. Dann klirrte etwas. Jemand schrie auf. Mehr Gerangel. Felix wusste nicht, was er tun sollte. 
   Was ging da vor sich?
Dann fiel etwas zu Boden. Es klang schwer. Felix hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Seine Haut fühlte sich abwechselnd heiß und kalt an. 
   „Was wollen Sie von mir?“, fragte sein Vater und klang dabei, als wäre er betrunken.
Niemand antwortete ihm.
   Felix verstand nicht, wie sein Vater mit einem Mal lallen konnte. Er war sicher, dass Papa vollkommen nüchtern gewesen war, als er vor einer guten Stunde gekommen war. Sein Papa hatte ihm einen Kuss auf die Wange gegeben. Felix hätte sofort gemerkt, wenn sein Vater Alkohol getrunken hätte. Er hasste den Geruch.
   Jemand näherte sich der Schlafzimmertür. Es klang, als schöbe jemand eine Person eine andere vor sich her. Jemand krachte mehrmals gegen die Wand des Gangs. Instinktiv zog Felix sich die Bettdecke über den Kopf. Sein Vater stöhnte. Felix‘ Herz raste. Er zwang sich, aufzustehen und zur Tür zu gehen. Am Ende des Gangs ging ein Licht an. Ganz langsam öffnete Felix die Tür ein Stück und spähte nach rechts in den Flur. Er sah eine dunkle Gestalt, die seinen Vater ins Badezimmer schubste. Sein Vater krächzte etwas, das Felix nicht verstand. Felix konnte die Angst in den Augen seines Vaters sehen, die noch größer wurde, als er Felix an der Schlafzimmertür bemerkte. Er formte Worte, die seine Lippen nicht verließen. Felix kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu konzentrieren.
   „Verschwinde!“, krächzte sein Vater kaum hörbar.
Die Gestalt knurrte etwas Unverständliches und versetzte Felix‘ Vater einen Schlag gegen die Rippen. Sein Vater knickte röchelnd ein.
„Verschwinde“, kam es erneut, dieses Mal leiser, deutlich schwächer.
   Erst jetzt begriff Felix, dass sein Vater nicht mit der Gestalt sprach, sondern mit ihm. Felix griff nach seinem Rucksack. Leise schlich er in den Vorraum, tastete nach seinen Stiefeln. Dabei bemerkte er eine weitere Gestalt, die zusammengesunken auf dem Teppichboden lag. Die Frau, die sich mit seinem Vater gestritten hatte, dachte Felix und überlegte, was er tun konnte. Mit einem Fuß stieß er gegen die Scherben einer zerbrochenen Flasche. Ein leises Klirren. 
   Die Gestalt im Badezimmer hatte das ebenfalls gehört. Blitzschnell wandte sie sich um. Sie trug eine dunkle Winterjacke, eine Sturmhaube und schwarze Handschuhe. Felix spürte, wie ihr Blick ihn traf, fast wie ein Stromschlag. Die Gestalt bewegte sich auf ihn zu. Felix zwang sich, sich von diesen großen, wütenden Augen loszureißen. Er konnte die Frau doch nicht einfach so liegenlassen! Er bemerkte erleichtert, dass sie atmete. Ihr Brustkorb hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Schließlich packte er seine Stiefel, riss die Haustür auf und rannte die Treppe hinunter, so schnell er nur konnte. Sein Herz schlug so laut, dass er nur ein lautes Pochen in den Ohren hörte. Er versuchte, verzweifelt festzustellen, ob der Mann ihm folgte. Wie nah er hinter ihm war. Er lief, bis er völlig außer Atem war. Er wusste, dass er so etwas vermeiden sollte. Sein Puls ging viel zu schnell.
   Als er nicht mehr konnte, verlangsamte er sein Tempo. Er hielt seine Stiefel immer noch mit den Fingern umklammert. Er blieb stehen, warf einen Blick hinter sich und stellte erleichtert fest, dass niemand ihm folgte. Hastig schlüpfte er in seine Winterstiefel. Seine Zehen waren durchnässt und beinahe taub. Erst jetzt merkte er, wie die Kälte unter seinen dünnen Sweater kroch und sich durch den Stoff seiner Jeans fraß. 
   Verdammt! Er hatte seine Daunenjacke in der Wohnung seines Vaters vergessen. Felix schüttelte den Kopf. Er musste Hilfe holen. Er musste zur Polizei. Felix sah sich um. Wie weit war er gelaufen? Die nächste Polizeistation war nur wenige Minuten von der Wohnung seines Vaters entfernt. Er stellte fest, dass sich die Dienststelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Felix steuerte darauf zu. Er hatte das Gebäude beinahe erreicht, als sein Mobiltelefon eine neue Nachricht mit einem leisen ‚Pling‘ ankündigte. Felix zog das Handy aus seiner Gesäßtasche und warf einen Blick auf das Display. Im selben Augenblick erstarrte er.


Leseprobe "Das Mädchen im Park"

Pädophiler Straftäter aus
Haft entlassen


Nach nur fünf Jahren wurde der pädophile Straftäter Nico S. wegen guter Führung aus der Strafanstalt entlassen. Der heute 24-Jährige hatte vor sechs Jahren ein siebenjähriges Mädchen entführt und sexuell missbraucht. Danach hatte er das Kind erwürgt und seine Leiche in einem Park abgelegt. Im Zuge der Ermittlungen konnten dem jungen Mann, der nach Jugendstrafrecht verurteilt worden war, mehrere weitere Missbrauchsfälle an Minderjährigen nachgewiesen werden. 
   Der Leiter der Vollzugsanstalt spricht von einem „vorbildlichen Insassen“. Die Gutachterin betrachtet Nico S. gar als geheilt. Nico S. lebt vorerst bei seiner Mutter. Die Nachbarn sind alarmiert, befindet sich doch ein Kindergarten unmittelbar neben dem Wohnort des Straftäters. Einige von ihnen demonstrierten sogar gegen die Entlassung des verurteilten Sexualstraftäters und fordern die Behörden auf, Nico S. zu einem Umzug in eine Nachbarschaft zu bewegen, in der nicht vorwiegend Familien leben.
 
 
1

   Der Alarm des Mobiltelefons schrillte. Vera Brandt warf einen Blick auf ihre kleine Tochter, die friedlich in der Sandkiste hockte und Sand schaufelte. Sie trug die roten Gummistiefel mit den blauen Elefanten, die sie so liebte und eine weiße Haube, die Elsas empfindliche Ohren schützte. Obwohl sich der Oktober bislang mild und weitgehend sonnig gezeigt hatte, wehte gelegentlich ein harscher Wind, der bis auf die Knochen zu spüren war. Vera wollte keinesfalls, dass sich ihre Tochter erkältete. Elsa war auch so ein eher kränkliches Kind. Wie oft hatte Vera mit ihr spätnachts ins Krankenhaus fahren müssen, weil sie sich ständig erbrechen musste oder Fieberkrämpfe hatte. Vom häufigen Husten ganz zu schweigen! 
   Deshalb achtete Vera bei Elsa penibel darauf, dass sie warm genug angezogen war und nichts Kaltes aus dem Kühlschrank aß oder trank. 
   Trotzdem schien es, dass Elsas Immunsystem nicht so funktionierte, wie das bei anderen Kindern ihres Alters der Fall war. Sie war ständig krank und selbst der Kinderarzt war angesichts der häufigen Infekte und Beschwerden, mit denen das Mädchen zu kämpfen hatte, ratlos. Elsa drehte ihren Kopf zum Hauseingang und winkte. Die blauen Kulleraugen leuchteten wie zwei Saphire in dem bleichen Gesicht. Sie lächelte verhalten. Vera hob die Hand und winkte zurück. Elsa wandte sich wieder ihrer Schaufel zu. Veras Herz machte einen Satz. Wie sehr sie Elsa doch liebte! Wie viel Freude sie jeden Tag, jede Minute verspürte, seit sie das kleine Wesen vor knapp vier Jahren das erste Mal im Arm gehalten hatte. Sie hatte zuvor noch nichts Vergleichbares verspürt. Sie war zutiefst dankbar, dass sich ihr Glück vor sechs Monaten verdoppelt hatte und sie nun auch Mutter eines gesunden Sohnes war. 
   Der Alarm schrillte erneut. Genervt zog sie das Mobiltelefon aus ihrer Jackentasche und stellte den Alarm ab. Sie hatte ihn aktiviert, um nicht zu vergessen, den Kuchen rechtzeitig aus dem Ofen zu holen. Sie blickte noch einmal auf ihre Tochter, ehe sie die Stufen zum Eingang empor eilte. Der Duft von Vanille und warmer Schokolade strömte ihr entgegen. Sie hastete in die Küche, schlüpfte in zwei Ofenhandschuhe und zog die Kastenform aus dem Backofen. Dann schaltete sie den Ofen aus. In diesem Moment ertönte das Babyphon. Ein leises Brabbeln. Erst beinahe vergnügt, dann deutlich energischer. Vera lächelte. Schließlich begann Luis zu weinen. Vera schob die Küchengardine beiseite und vergewisserte sich, dass Elsa noch in der Sandkiste spielte. Ihre Tochter hatte offenbar einen Sandkuchen gebacken und klopfte das fertige Produkt soeben mit der Schaufel platt. Vera hoffte inständig, dass Elsa nicht von dem Sandkuchen probierte. Zu oft beobachtete sie die Katzen der Nachbarschaft, die ihren Garten für deren Hinterlassenschaften nutzten. Obwohl Vera die Sandkiste stets mit einer Plastikplane abdeckte, wenn Elsa nicht darin spielte, war sie sicher, dass der Sand auf die eine oder andere Weise verunreinigt war. Falls Elsa den Sand probierte, würde sie natürlich prompt mit Durchfall oder Erbrechen reagieren. Ihre Kleine hatte einfach einen empfindlichen Magen. 
   Einen Moment lang überlegte sie, Elsa ins Haus zu holen, bis sie Luis versorgt hatte. Als Luis‘ Schreie einen alarmierenden Tonfall annahmen, seufzte sie leise. Sie verwarf den Gedanken, ihre Tochter unter Protest aus der Sandkiste zu holen und lief die Stufen ins Schlafzimmer hinauf. 
   Obwohl ihr Mann Markus sich händeringend wünschte, Luis würde endlich in seinem eigenen Kinderzimmer schlafen, brachte Vera es bislang nicht übers Herz, ihren kleinen Sohn aus dem elterlichen Zimmer zu verbannen. Außerdem war es so viel praktischer, wie sie fand. Wenn Luis in der Nacht aufwachte, holte sie ihn zu sich ins Bett und gab ihm die Brust. Auf diese Weise konnten sie alle drei binnen weniger Minuten weiterschlafen. Gelegentlich führte sie deswegen hitzige Diskussionen mit Markus, aber das war ihr egal, immerhin würde Luis nicht ewig so klein sein. Die Babyzeit musste sie so gut wie möglich nutzen und ihren kleinen Schatz verhätscheln.
   Luis lag mit zusammengeballten Fäusten in seinem Bettchen. Sein Gesicht war ganz rot vom Schreien. 
   „Na, na, wer wird sich denn so aufregen?“, murmelte Vera, als sie näher an das Bett trat und sich über ihren Sohn beugte. „Mama ist ja da. Alles ist gut.“
   Luis verstummte nahezu augenblicklich und riss die Augen weit auf, als er seine Mutter erblickte. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Vera hob ihn aus dem Bett und setzte ihn auf ihre Hüfte. Augenblicklich fing der Kleine an zu schmatzen. Vera wiegte ihn ein wenig hin und her. Luis begann erneut zu schreien.
   „Du hast Hunger, was?“, fragte sie und setzte sich in den Stuhl, den sie eigens zum Stillen gekauft hatte. Sie drapierte das Stillkissen so, dass Luis bequem Platz in ihrem Schoß fand. Dann schob sie ihre Bluse hoch und öffnete den Verschluss ihres BHs. Der Kleine suchte sofort nach ihrer Brustwarze und begann gierig daran zu saugen. Vera schloss die Augen und summte ein Kinderlied vor sich hin. Sie genoss diese intimen Momente mir ihrem Sohn, diese kostbaren Augenblicke, die nur ihnen beiden gehörten. 
   Einige Minuten lang nuckelte das Baby hochkonzentriert. Dann begann es, von der Brust abzulassen und lächelte stattdessen seine Mutter an. Vera lächelte verzückt zurück. Sie hob ihren Sohn an ihre Schulter und wartete, bis er aufgestoßen hatte. Danach trug sie ihn zum Wickeltisch und legte ihm eine frische Windel an. Ein paar Minuten spielte sie mit ihm, indem sie ihm Luft auf den Bauchnabel blies, woraufhin der Kleine jedes Mal fröhlich quiekte. Schließlich zog sie ihm frische Kleidung an und kehrte mit ihm in die Küche zurück. Luis brabbelte vergnügt vor sich hin. Vera küsste ihn auf den Kopf und die Wange. Mit ihrer freien Hand zog sie die Küchengardine beiseite und warf einen Blick in den Garten. Ihr Herz schlug plötzlich schneller. Die Sandkiste war leer. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und stürzte zur Balkontür des elterlichen Schlafzimmers, von wo aus sie praktisch den ganzen Garten überblicken konnte. Nichts. Keine Spur von ihrer Tochter. Ihr Herz wummerte laut in ihrer Brust.
   „Elsa!“, rief sie. „Elsa, wo bist du?“
   Sie hastete mit dem Baby auf der Hüfte die Stufen hinunter, stieß die Haustür auf und suchte jeden Winkel des Gartens ab. Vielleicht hatte Elsa sich im Geräteschuppen versteckt? Doch der war versperrt, eben um zu verhindern, dass sich ihre Tochter dort verletzen konnte. Auch hinter der roten Kunststoffrutsche war keine Spur von Elsa. Veras Atem ging stoßweise. Luis spürte die Aufregung seiner Mutter und begann zu quengeln. 
   „Elsa! Bitte komm zu mir!“ Vera stolperte planlos durch den Garten. „Mama schimpft auch nicht mit dir – versprochen!“
   Doch Elsa blieb verschwunden. Vera schluckte. Das konnte doch nicht sein! Wohin konnte Elsa gegangen sein? Vera durchquerte den Garten und öffnete das Tor. Ob Elsa auf die Straße gelaufen war? Vera hatte das Gefühl, nicht atmen zu können. Sie betrat den Fußgängerweg und blickte angstvoll die Straße hinunter. Was, wenn ihre Tochter überfahren worden war? Wenn sie einen Unfall gehabt hatte? Vera wurde schwindlig. Alles um sie drehte sich. Einen Augenblick lang musste sie sich gegen das Gartentor lehnen. Dann lief sie mehrere hundert Meter die Straße hinunter, wobei sie laut nach Elsa rief. Schließlich hastete sie denselben Weg zurück und suchte in der anderen Richtung.
   „Was ist denn passiert? Ist was mit der Kleinen?“, fragte eine Nachbarin vom Balkon des Nachbarhauses herab.
   Vera beachtete sie nicht einmal und hetzte weiter. Schließlich kehrte sie erschöpft und völlig außer Atem zum Haus zurück, in der Hoffnung, Elsa wäre in der Zwischenzeit wieder aufgetaucht. Doch der Garten lag gespenstisch ruhig vor ihr. Die Schaukel krächzte leise im Wind, als wäre Elsa eben von ihr heruntergesprungen. Die Plastikschaufel lag achtlos hingeworfen in der Sandkiste, daneben der plattgedrückte Sandkuchen. 
   Vera überlegte, ob Elsa vielleicht unbemerkt ins Haus zurückgekehrt war, während sie nach ihr gesucht hatte. Sie hastete mit Luis die Stufen empor und fegte durch sämtliche Räume im Erdgeschoß. Doch Elsa war weder im Wohnzimmer noch in der Küche, auf der Toilette oder in der Abstellkammer. Auch die Schlafzimmer und das Badezimmer im Obergeschoß waren verwaist. Nur Elsas Duft hing schwach in ihrem Kinderzimmer. Doch außer Vera wäre dieser wohl niemandem aufgefallen. Veras Herz trommelte mittlerweile heftig gegen ihre Brust. Sie atmete hektisch. Sie lief erneut in den Garten und suchte jeden Winkel nach ihrer Tochter ab. Vergebens.
   Elsa war verschwunden. Sie hatte ihr eigenes Kind verloren. Vera sank erschöpft auf die Stufen vor ihrem Haus nieder und rief die Polizei. 
   Dort saß sie noch, als die Beamten eintrafen und die aufgelöste Mutter, mit dem brüllenden Luis am Arm, ins Haus führten. Dann erzählte sie ihnen, was sich während der letzten halben Stunde ereignet hatte.

2

   Alex warf einen Blick auf die Uhr und sehnte den Feierabend herbei, als ihr Mobiltelefon klingelte. Sie hatte vergangene Nacht kaum geschlafen und fühlte sich, als bräuchte sie dringend ein freies Wochenende. Vielleicht könnte sie Paul Wagner, ihren Chef und Leiter der Mordkommission, um ein paar Urlaubstage bitten. Elli und sie konnten wirklich ein bisschen gemeinsame Zeit brauchen.
   „Elli!“ Alex‘ Stimme klang warm, als sie den Anruf ihrer Lebensgefährtin entgegennahm.
   „Du bist ja ganz schön früh losgefahren heute Morgen.“
   „Ich konnte nicht schlafen. Keine Ahnung, was da los war. Dafür fühle ich mich jetzt wie gerädert.“ Alex nippte an einer Tasse Kaffee. Bestimmt der sechste an diesem Tag.
   „Dann sollten wir uns nachher wohl einen gemütlichen Fernsehabend auf der Couch machen“, schlug Elli vor.
   „Klingt gut. Ich bin in einer guten Stunde zu Hause“, erwiderte Alex. „Besorgst du uns was zu essen?“
   „Thailändisch?“
   „Bin dabei!“
   Elli seufzte leise.
   „Ist irgendwas?“
   „Es geht um eine Kollegin von mir“, erwiderte Elli und klang mit einem Mal sehr ernst. „Vera. Sie hat vor ein paar Monaten ihr zweites Baby bekommen und ist im Moment in Karenz.“
   Elli arbeitete in einem Seniorenheim. Dort hatte Alex ihre Freundin auch vor vielen Jahren kennengelernt.
   „Was ist los?“, wollte Alex wissen.
   „Veras kleine Tochter wird vermisst.“
   „Wie alt ist das Mädchen?“
   Elli überlegte einen Moment lang. „Sie müsste dreieinhalb Jahre alt sein. Vier vielleicht.“
   Alex atmete scharf aus. Damit war wohl ausgeschlossen, dass das Kind von zu Hause weggelaufen war.
   „Hat diese Arbeitskollegin ihre Tochter etwa alleingelassen?“
   Elli schluckte. „Nicht wirklich. Das Mädchen hat im Garten gespielt. Veras kleiner Sohn ist wohl aufgewacht und hat geschrien. Vera hat ihren Sohn gefüttert und gewickelt und ist dann gleich wieder in den Garten zurückgekehrt.“
   „Und da war Elsa bereits verschwunden“, schlussfolgerte Alex.
   „Ja“, erwiderte Elli leise.
   „Ich nehme an, Vera hat die Polizei verständigt?“
   „Natürlich!“ 
   „Das tut mir sehr leid für deine Arbeitskollegin“, erklärte Alex. „Es muss furchtbar sein, wenn das eigene Kind verschwindet.“
   „Kannst du nichts tun?“, fragte Elli. Ihre Stimme klang flehend.
   Alex nahm einen weiteren Schluck von ihrem Kaffee. Er war mittlerweile kalt und schmeckte bitter. „Das fällt nicht in meinen Bereich, aber ich kann mal bei den Kollegen nachfragen, ob sie eine Spur in dem Fall hat. Wenn kleine Kinder verschwinden, wird der Suche immer oberste Priorität eingeräumt.“
   Elli atmete geräuschvoll aus. „Du bist ein Schatz, Alex! Danke!“
   „Ich weiß“, erwiderte Alex und lächelte. „Und vergiss nicht, das Abendessen zu besorgen.“
   „Bestimmt nicht!“
   Damit beendeten sie das Gespräch. 
   Alex stand auf und kippte den Rest ihres Kaffees in die Spüle. Das verschwundene Mädchen bereitete ihr Unbehagen. Kinder in diesem Alter verschwanden nicht einfach so. Sie tippte eine Nummer in ihr Telefon. Eine vertraute Stimme meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
   „Steiner.“
   „Hallo Agnes. Hier ist Alex. Alex Wild.“
   „Alex!“ Agnes klang überrascht. „Von dir habe ich ja ewig nicht mehr gehört.“
   Alex sah die kleine drahtige Frau mit dem dunklen Pagenkopf vor sich. Sie hatten vor Jahren gemeinsam die Polizeischule besucht und sich damals sogar zeitweise ein Zimmer geteilt.
   „Du hast recht. Es ist viel zu lange her.“ Alex lachte verlegen.
   „Wir sollten unbedingt einmal einen Kaffee miteinander trinken und über alte Zeiten quatschen“, meinte Agnes.
   „Das wäre toll!“, erwiderte Alex, die mit den Gedanken bei dem verschwundenen Mädchen war.
   „Aber deswegen rufst du natürlich nicht an“, stellte Agnes unumwunden fest. „Was kann ich für dich tun?“
    „Es geht um ein kleines Mädchen, das aus dem Garten seiner Eltern verschwunden ist“, begann Alex.
   Agnes atmete geräuschvoll aus. „Elsa Brandt“, sagte sie leise. „Schlimme Sache.“
   „Die Mutter des Mädchens ist eine Arbeitskollegin meiner Lebensgefährtin. Kannst du mir sagen, ob ihr schon irgendeine Spur habt?“, fragte Alex geradeheraus. 
   Sie wappnete sich dafür, dass Agnes sie vertrösten würde. Stattdessen sagte Agnes: „Die Mutter hat den Kollegen erzählt, dass ihr Baby geschrien hätte und sie Elsa deshalb für ein paar Minuten alleine im Garten gelassen hätte.“
   „Wie lange war das Mädchen alleine dort?“
   „Laut Aussage von Vera Brandt nur ein paar Minuten. Wir wollten sie etwas später erneut befragen, aber sie hatte inzwischen einen Nervenzusammenbruch und musste ruhiggestellt werden.“
   „Und der Vater des Kindes?“
   „Er ist offenbar auf Dienstreise“, erklärte Agnes. „Wir haben ihn natürlich sofort verständigt. Er ist auf dem Weg nach Hause.“
   „Die arme Frau!“, murmelte Alex.
   „Ja“, stimmte Agnes zu. „Es muss ganz entsetzlich sein, wenn das eigene Kind verschwindet.“
   Besonders, wenn man weiß, dass man das Kind aus den Augen gelassen hat, dachte Alex.
   „Habt ihr Spuren gefunden?“
   „Es gibt ein paar Schuhabdrücke im Garten“, erwiderte Agnes. „Die Spurensicherung versucht, im Augenblick festzustellen, ob diese von Veras Mann stammen oder zum Beispiel vom Briefträger.“
   „Oder ob es sich um die Schuhabdrücke eines Fremden handelt“, schlussfolgerte Alex.
   „Genau“, bestätigte Agnes.
   „Wie lange ist das Mädchen inzwischen verschwunden?“
   „Seit gut drei Stunden“, entgegnete Agnes leise.
   Alex schluckte. Mit jeder Stunde, die verstrich, sanken die Chancen, Elsa lebend zu finden. 
   „Gibt es eine Lösegeldforderung?“
   „Nein. Keine Nachricht vom Entführer. Nichts.“ Agnes räusperte sich. „Und das ist es, was mir große Sorgen macht.“
   Ein Telefon klingelte schrill im Hintergrund.
   „Ich muss los!“, erklärte Agnes.
   „Schon klar“, erwiderte Alex. „Lass mich wissen, wenn ihr Neuigkeiten ...“. Doch die Leitung war bereits tot. 

Leseprobe "Anders schön"

1

Es war der Sommer, in dem ich mich unsterblich verliebte und auch jener, in dem ich für einige Minuten tot war. Man erklärte mir später, ich hätte unfassbares Glück gehabt. Ich versuchte vergeblich, mich an ein helles Licht zu erinnern, an einen Tunnel oder eine Schar von Engeln, die mich mit dem Klang von Harfen empfing. Stattdessen war da – nichts. Vielleicht hatte man einfach entschieden, dass es dort oben keinen Platz für mich gab. Ich gehörte dort nicht hin. So wie ich nirgends hingehörte. Vielleicht war die Hölle ein unendliches Nichts, ein Ort, an dem man weder hörte, sah, roch noch fühlte. Ein nie endendes Dahingleiten. Ein zeitloses Sein ohne Sinneswahrnehmungen und Schmerz. Ich kann mir Schlimmeres vorstellen. Ein Leben hier auf der Erde, zum Beispiel. Ein tägliches Kämpfen darum, niemanden zu provozieren, indem man einfach existierte. Das war ich. Das personifizierte Ich-gehöre-nicht-hierher.               
   Solange ich mich erinnern konnte, erschien mir immer alles falsch, als stünde die Welt kopf und als hätte jemand vergessen, mich richtig herum darin zu platzieren. Wenn es in diesem Universum Aliens gab (und ich war sicher, dass selbst der arroganteste Erdbewohner einräumen musste, dass das äußerst wahrscheinlich war), dann hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung, wie diese sich fühlen müssten, sollten sie je einen Fuß (oder wie auch immer sie sich fortbewegen mochten) auf die Erde setzen. Ich hatte tagtäglich das Gefühl, nicht hierher zu passen, fremd in dieser Welt zu sein. Falsch. Als gehörten all die Menschen, die über den Erdball turnten, einer anderen Spezies an, sprächen eine andere Sprache und hätten kulturelle Gepflogenheiten, von denen ich noch nie gehört hatte.
   Vielleicht mochte ich Menschen deswegen nicht. Die meisten zumindest. Tiere dagegen hatten einen festen Platz in meinem Herzen. Es brauchte keine großen Worte, damit sie verstanden, wie ich mich fühlte, wann ich meine Ruhe wollte oder Nähe suchte. Sie spürten es einfach. Zwischen mir und den meisten Vierbeinern schien es ein wortloses Verstehen zu geben, etwas, das mir selbst mit einem stundenlangen Gespräch mit Zweibeinern nicht möglich war. Selbst eine Nacktschnecke war mir lieber als ein quasselnder Zweibeiner, der sich, um Zustimmung heischend, verbog, bis er nicht mehr war als der Abklatsch seines Nebenmannes oder seiner Nebenfrau.           
   Ist euch jemals aufgefallen, dass Mädchen meines Alters alle gleich aussehen? Langes, glattes Haar. Dichte Wimpern. Hautenge Jeans. Oberteil, das keinen Zweifel daran lässt, was sich darunter verbirgt. Sneaker, bevorzugt in weiß. Selbst das Make-up wird Instagram-tauglich tausendfach kopiert. Würde man eine Fünfzehnjährige aus einem Klassenzimmer entfernen und gegen ein gleichaltriges Mädchen austauschen, es würde vermutlich niemandem auffallen. Zumindest nicht so schnell. Bei mir war das anders. Ich fiel auf wie der sprichwörtliche bunte Hund oder der Elefant im Porzellanladen. Je mehr ich in meinem Sessel versank und mein Gesicht halb hinter einem Schal und einem überdimensionalen Hoodie versteckte, umso mehr Blicke zog ich auf mich. Und damit meine ich keine bewundernden Blicke, sondern eher welche von der Sorte ‚Was-zum-Teufel‘?
   Meistens war es mir egal, was die anderen dachten. Ich wusste, dass sie sich fragten, ob ich ein Mädchen oder ein Bursche war, ob sich unter meinen extraweiten Schlabberpullis Brüste verbargen oder Brusthaare. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Nichts, was ich dazu sagen könnte, hätte ihre Meinung geändert. Und ich war es leid, mich ständig erklären zu müssen. Ich konnte Menschen nicht ausstehen, die Schubladen brauchten, um die Welt zu begreifen. Langes Haar: aha, ein Mädchen. Kurzer Schopf: ein Bub. Gute Noten: schlauer Kopf. Schlechte Noten: Niete. Tattoos: potenziell gewalttätig. Piercings: will um jeden Preis auffallen. Übergewicht: faul und verfressen. Ausländer: missbraucht unser Sozialsystem. Mädchen küsst Mädchen: Lesbe. Ungeschminkt: macht sich nichts aus ihrem Äußeren.
   Warum ich keine Schubladen mochte? Ich passe in keine. Und wenn ich es genau nehme, passen die wenigsten Menschen in Schubladen. Sie sind bunter, komplexer und dickköpfiger, als andere Menschen ahnten. Sie bestehen aus einer Vielzahl an Bausteinen, Erfahrungen, Werten, Meinungen, Gedanken und Gefühlen und jeder einzelne Bestandteil ist wie ein individueller Fingerabdruck: Es gibt ihn in keiner zweiten Person. Ich bin ich. Die Schublade, in die ich passe, muss erst erfunden werden. Und ich zu sein, das ist schlimm genug.
 
   Heute war wieder einer dieser Tage, an denen ich mir wünschte, die Erde würde sich auftun, um mich zu verschlucken. Mit fünfzehn ist die Schule einfach die Hölle. Ganz besonders, wenn man nicht so ist wie die anderen. Mein Notizbuch lag aufgeschlagen auf dem Tisch vor mir. Ich kritzelte ein paar Gedanken hinein. Das machte ich ständig, besonders, wenn ich aus einer Situation fliehen wollte. So wie jetzt. Clemens, Tobias und ein paar andere Burschen machten ein paar derbe Witze. Ich spürte, wie sie sich von hinten an mich heranpirschten. Ich schloss das Notizbuch und schob mir die Kapuze meines Hoodies auf den Kopf.
   „Zisch ab!“, fauchte ich Clemens an, als ich seinen Atem bereits an meinem Nacken fühlte.
   „Na, wer wird denn so unfreundlich sein?“ Clemens ließ sich auf das Pult plumpsen. Seine Jeans saß so tief, dass sie den Blick auf den oberen Bereich seiner Arschbacken freigab.
   „Verpiss dich!“ Ich packte das Notizbuch und wollte es in meinen Rucksack stecken, aber Clemens war schneller.
   Mit einer flinken Bewegung packte er mein Handgelenk und umfasste es wie ein Schraubstock. Ich verzog das Gesicht.
   „Lass los!“
   „Sonst was?“ Er lachte. Ein Tropfen seines Speichels flog durch die Luft und landete auf meiner Wange.
   Ich verzog angewidert das Gesicht. Clemens packte das Notizbuch und öffnete es auf seinen Knien. Die anderen Burschen näherten sich neugierig und nahmen auf den Stühlen rundherum Platz. Ich wünschte vergebens, ich hätte mich verspätet und wäre erst mitten in der ersten Stunde zum Unterricht erschienen, so wie ich es gelegentlich tat. Ich drückte mich von meinem Stuhl hoch, doch Clemens schubste mich so fest, dass ich mit meinem Hintern wieder auf der harten Sitzfläche landete.
   „Wo willst du denn hin?“, fragte er mit einem breiten Grinsen. „Der Spaß fängt doch gerade erst an!“
   Ich schloss die Augen und atmete tief aus.
   Clemens räusperte sich und begann, vorzulesen:

    I wish I was a guy. Nobody would worry about me loving a girl.
    I wish I was a boy. Nobody would care about the
    clothes I wear.
    I wish I was okay. Nobody would try to change me.
    I wish I was somebody else. Just anyone. Just not myself.

   
  Eine kurze Stille erfüllte den Raum. Dann begann Tobias, schallend zu lachen. „Jetzt ist alles klar“, prustete er los. „Wieso du dich anziehst wie ein Typ. Wieso du so hässlich bist.“ Er machte eine kunstvolle Pause. „Du bist eine Lesbe!“ Das letzte Wort spie er hervor, als wäre es ein Schimpfwort. Das Blut schoss mir ins Gesicht. Ich kannte Tobias seit dem Kindergarten. Unsere Eltern waren befreundet. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte ich ihn als guten Freund bezeichnet. Aber das war lange her. Und jetzt das!
   Clemens beugte sich vor und starrte mir unverwandt ins Gesicht. „Du stehst wohl drauf, Muschis zu lecken, was?“ Er gluckste.
   Mein Herzschlag beschleunigte. Alles drehte sich. Ich musste hier raus. Doch Clemens, Tobias und zwei weitere Mitschüler umringten mich und ließen mir keine Möglichkeit zu fliehen. Clemens fand die Skizze eines Herzens, das von einem Pfeil durchbohrt war, in der Mitte des Buches. Am einen Ende stand L für Lena, am anderen ein M.
   „Wer ist das? M?“, fragte Clemens und sein Gesicht tauchte so dicht vor meinem auf, das ich ihn doppelt sah. 
   Ich wich zurück.
   „Oder steht das M für Muschi?“ Wieder prusteten die vier los. 
   Ich hörte meinen Puls in den Ohren. Das Blut rauschte durch meinen Kopf wie der kleine Bach im Frühling neben unserem Haus während der Schneeschmelze. Ich musste hier raus. In meiner Not tauchte ich ab. Ich bückte mich, um die Bänder meiner Sneakers zu binden, dorthin, wo niemand die Tränen sah, die meine Augen füllten. Meine Wangen glühten. Ich war sicher, dass sie knallrot leuchteten. 
   „Bist du bald fertig, Lesbe?“, fragte Clemens.
   Seine Stimme dröhnte in meinen Ohren. Ich fuchtelte an den Bändern meiner Schuhe herum. Atme, Lena! Atme!, sagte ich mir wieder und wieder vor. Bloß nicht den Kopf heben. Einfach abtauchen. Verschwinden.
   „Also, wie ist das so mit Frauen rumzumachen, Lena?“ Tobias‘ Stimme traf mich wie ein Dolch. „Sag mir doch das nächste Mal Bescheid. Ich komme vorbei.“
   Ich schluckte. 
   „Na, Svetlana!“, rief Clemens an eine Mitschülerin gewandt. „Das wär doch was für dich! Du hast doch eh noch nie! Und Jungfrau würdest du auch bleiben. Perfekt für eine Muslima!“
   „Idiot!“, zischte Svetlana und polterte aus dem Klassenzimmer.
   „Wie lange willst du denn noch deine Schuhbänder binden? Soll ich dir helfen?“, fragte Tobias von der Seite.
   Ich atmete tief aus und richtete mich auf. Ich hatte keine Wahl. Ich wünschte, Frau Zopf, die Geschichtslehrerin, würde endlich kommen. 
   „Na geht doch, Muschi-Leckerin!“
   Meine Wangen brannten. Mir war schwindlig. Ich blickte hilfesuchend zur Tür, in der Hoffnung, Frau Zopf wäre im Anmarsch. Fehlanzeige. Stattdessen schwang die Tür auf und Ines betrat den Raum. Obwohl sie klein und drahtig war, war sie eine Erscheinung. Ihr dunkles, lockiges Haar hätte gut und gern für zwei Köpfe gereicht. Sie bewegte sich mit einer Anmut, die einer Ballerina würdig gewesen wäre. Binnen Sekunden hatte sie die Situation erfasst. Ihre Augen blitzten wütend, während sie auf die Gruppe zuschoss. Ines ist meine einzige und beste Freundin. 
   „Was zum Teufel ist hier los?“ Ines‘ Stimme übertönte den Tumult in der Klasse. 
   Alle Köpfe drehten sich zu der spanischstämmigen Schönheit.
   „Eh, Alte, chill mal!“ Clemens baute sich vor Ines auf und verschränkte seine Arme unter der Brust. „Alles easy. Wir unterhalten uns nur ein bisschen.“
   „Das sehe ich“, entgegnete Ines und quetschte sich an den anderen vorbei zu meinem Sitzplatz in der dritten Reihe.           „Verpisst euch, und zwar schnell!“
   „Sonst was? Gehst du petzen?“ 
   Ines drehte Clemens den Rücken zu und reckte den Mittelfinger in die Luft. „Und ihr“, brüllte sie in die Menge. „Die Show ist vorbei. Verstanden?“
   Allmählich löste sich die Truppe auf und die Burschen trollten sich auf ihre Plätze. 
   Ich hockte auf meinem Stuhl und starrte aus dem Fenster. Meine Augen waren feucht, meine Lippen zitterten.
   „Hey“, flüsterte Ines mir ins Ohr und legte einen Arm um meine Schulter. „Lass dich von denen nicht aus der Fassung bringen. Die sind es nicht wert.“
   Ich schluckte.
   „Was ist denn passiert?“
   Ich fuhr mir mit den Fingern durch mein kurzes Haar. „Sie haben mein Notizbuch gelesen.“
   Ines riss die Augen auf. „Das mit deinen Gedichten und Geschichten?“
   Ich nickte. 
   „Diese Arschlöcher!“ Ines ballte die Hände zu Fäusten. „Wo ist es jetzt?“
   Ich deutete mit dem Kopf hinter mich. „Clemens hat es.“
   Wie in Zeitlupe erhob sich Ines und steuerte auf ihren Klassenkameraden zu. Clemens lehnte sich lässig nach hinten und bedachte sie mit einem breiten Grinsen. 
   „Her damit!“, sagte Ines.
   „Na na, wer wird denn gleich zornig werden?“
   „Ich“, erwiderte sie so ruhig wie möglich, „wenn du Lenas Notizbuch nicht sofort rüberwachsen lässt.“
   Clemens gluckste vergnügt. 
   „Jetzt hab ich aber Angst.“ 
   „GIB MIR DAS NOTIZBUCH!“
   „Gehst du sonst zu deiner Mami?“ Clemens äffte Ines‘ Stimme nach.
   Ines lächelte und stützte sich mit einer Hand auf Clemens‘ Schreibtisch ab, während sie ein Stück weit in die Knie ging.
   „So ist es recht“, grinste Clemens. „Auf die Knie mit dir! Da habe ich dich am liebsten.“
   Ines lehnte sich noch etwas weiter zu Clemens vor, bis er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren konnte.
   „Darauf könnte ich wetten“, flüsterte sie mit einem verführerischen Augenaufschlag. 
   Clemens lächelte. Ines schob ihre andere Hand blitzschnell unter die Schreibtischplatte und schätzte ab, wo sie zupacken musste. Im selben Augenblick krallten sich ihre Finger unbarmherzig in Clemens‘ Hoden. Sein Schrei gellte durch den Raum.
   „Meine Eier! Du Schlampe! Lass meine Eier los!“
   „Gerne!“, flötete Ines. „Du weißt, was du dafür tun musst.“
   Clemens fuchtelte mit schmerzverzerrtem Gesicht mit beiden Händen durch die Luft und zog schließlich ein grünes Notizbuch im A5-Format aus der offenen Lade seines Pults hervor. Immer noch schreiend knallte er das Büchlein auf den Tisch.
   „Dankeschön“, erwiderte Ines mit einem zuckersüßen Lächeln. 
   „Du kannst jetzt loslassen!“, presste Clemens mühsam hervor.
   „Wie sagt man da?“
   Clemens stöhnte leise auf, als Ines den Druck ihrer Finger verstärkte.
   „Lass los! Bitte!!“
   „Na also, geht doch!“, erklärte Ines und lockerte den Griff.
   „Wenn du Lena noch einmal so schikanierst, singst du zwei Oktaven höher. Dauerhaft. Haben wir uns verstanden?“
   Clemens nickte hastig. Ines zog ihre Hand unter dem Tisch hervor und kehrte mit dem Notizbuch zu mir zurück. Ich formte mit den Lippen ein lautloses ‚Danke‘. Dann pflügte ich mit dem Daumen über die cremefarbenen Seiten. Handgeschriebene Worte. Manche poetisch, andere fast vulgär. Texte. Notizen. Da waren Fotos von Ines und mir. Von meinem Bruder Jonas. Und einem Mädchen, das ich vor ein paar Wochen kennengelernt hatte. Maja. Der Kuss prickelte noch auf meinen Lippen wie süßer Schaumwein. Die Erinnerung an diese Begegnung stoppte die Kälte, die sich in meinem Inneren ausgebreitet hatte. Ines hatte den Augenblick eingefangen. Das Bild zweier zusammengeschweißter Köpfe prangte von einer der Seiten. Clemens und die anderen hatten es gesehen. Das Blut schoss mir erneut ins Gesicht.
   Frau Zopf, die Geschichtslehrerin, betrat das Klassenzimmer. Wie immer trug sie eine verwaschene Jeansjacke. Über ihrer Schulter baumelte eine lederne Aktentasche, die sie geräuschvoll auf den Tisch wuchtete.
   „Guten Morgen!“, rief sie in die Klasse, ohne den Blick zu heben. „Seite 87. Kollektivismus versus Individualismus.“
   Sie kniff die Augen zusammen und spähte über den Rand ihrer Brille. „Tobias. Du liest!“
   Tobias räusperte sich und begann, den Text monoton vorzutragen. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach zehn. Noch fünf Stunden bis Unterrichtsschluss. Das Klassenzimmer zog sich zusammen. Die Wände kamen auf mich zu. Immer näher. Frau Zopf schien direkt vor mir zu thronen, obwohl ich in der dritten Reihe saß. Ich wippte unruhig mit dem Fuß. Das Adrenalin pulsierte durch meine Adern und wollte abgebaut werden. Ich fühlte mich riesig in dem kleinen Raum. Unübersehbar. Als wären alle Blicke auf mich gerichtet. Ich wollte mich auflösen. Mich ganz klein machen. Mikroskopisch klein. Unsichtbar, am besten. Ich erinnerte mich an eine Fernsehshow, in welcher der Moderator einen Kandidaten gefragt hatte, welche Fähigkeit er gerne hätte.
   „Fliegen können“, lautete die Antwort.
   Eine weitere Kandidatin sagte: „Gedanken lesen.“
   Ich wusste genau, was ich mir wünschte, mir immer schon gewünscht hatte: sich unsichtbar machen zu können. Verschwinden. Von irgendwo die anderen beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Ich blickte mich im Klassenzimmer um, dessen Wände so nah an mich heranrückten, als saugte ich den Raum und alles darin in mich auf, wie ein Staubsaugersack, der dabei größer und immer größer wurde, bis das Gerät keinen Platz mehr für ihn bot. Ich schnappte nach Luft. Da war keine. Ich hockte in einem Vakuum. Mein Herz pumpte. Je mehr es klopfte, umso mehr versuchte meine Lunge, Luft in ihre beiden Flügel zu pumpen. Mein Fuß wippte schneller. Meine Finger krallten sich in meine Oberschenkel. Ich schloss die Augen.
   „Alles in Ordnung?“ Das war Ines. 
   Ihre Stimme hüllte mich sanft ein, auch wenn ihr Gesicht viel zu nahe war, ihre Augen riesig wie Schallplatten.
   „Lena?“ Frau Zopf beugte sich nun über ihren Tisch. Ihr Kopf erinnerte an eine überdimensionale Bowlingkugel. Unwillkürlich wich ich zurück. Ich packte meine Tasche, stammelte etwas Unverständliches und rannte aus dem Klassenzimmer. Meine Schritte hallten durch den Gang, während ich weiterlief, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her. Meine Lungen fühlten sich an wie ein prall gefüllter Luftballon, in den jemand immer weiter Luft blies. Irgendjemand rief meinen Namen. Von sehr weit weg. Ich drehte mich nicht um. Erst als die schwere Eingangstür hinter mir zuschwang und die Luft mir sommerwarm entgegenschlug, konnte ich wieder atmen. 

2

   Ich starrte auf das Foto, als könnte ich damit den Moment, in dem es aufgenommen wurde, wieder zum Leben erwecken. Ein unbeschwerter Augenblick wie eine schwebende Daune, die beim Schütteln der Bettdecke zu Boden gleitet. Ich strich mit dem Zeigefinger über Majas Gesicht, fast als erwartete ich, dass sie mich mit ihrem unwiderstehlichen Lachen beglücken würde. Unwillkürlich spürte ich ihre zarte Haut, sah die feinen Sommersprossen auf ihrer Nase. Ihre Augen leuchteten wie Bernsteine in der Sonne. Ich seufzte. Ein Glücksmoment. Mächtig, gewichtig, flüchtig.    Glück tauchte stets unvermittelt auf, unerwartet. Es blieb, meist nur einen Augenblick, stets viel zu kurz, und verflüchtigte sich dann wie der frische Duft nach einer Dusche im Laufe des Tages. Ich wünschte, ich könnte es festhalten, in eine Schublade stopfen und es an Tagen wie diesen hervorholen, wenn ich verzweifelt nach einem Grund suchte, irgendetwas an diesem beschissenen Leben zu schätzen.
   Ich erinnerte mich an den Augenblick, als ich Maja zum ersten Mal sah. Vor drei Monaten in einem Internet-Café in der Altstadt. Sie hockte vor einem PC und kaute auf ihrer Unterlippe herum, während ihre Stirn sich in Falten legte und sie konzentriert las, was auf dem Bildschirm stand. Sie hatte ihr langes blondes Haar straff nach hinten gekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Nur zu beiden Seiten kräuselten sich ein paar lose Strähnen und fielen ihr weich ins Gesicht. Ich konnte den Blick nicht abwenden, so schön war sie. 
   „Kann ich dir etwas bringen?“, fragte der Typ hinter der Theke. Sein Gesicht war von Aknenarben übersät.
   „Eine Cola“, antwortete ich, während ich nach einem Fünf-Euro-Schein in meiner Jeans tastete, ohne den Blick von dem blonden Engel zu nehmen.
   „Ich bring sie dir. Du kannst schon mal zu deiner Freundin gehen“, meinte der Typ und lächelte. Dabei entblößte er Vorderzähne, die dringend einem Kieferorthopäden vorgestellt werden sollten.
   „Oh“, machte ich und ließ mich auf einen Stuhl direkt neben der Theke fallen. „Ich denke, ich warte einfach.“
   Der Typ zwinkerte mir zu. „Was nicht ist, kann ja noch werden.“ Damit verschwand er kurz hinter der Bar und stellte eine kleine Flasche Cola samt Glas auf ein silberfarbenes Tablett und brachte es mir.
   „Danke“, sagte ich und nahm das Tablett entgegen.
   Das Mädchen starrte immer noch auf den Bildschirm, als wäre das ihre ganze Welt, als gäbe es rund um sie kein Leben. Ihr Gesicht war wie eine Leinwand, die eine Vielzahl von Gefühlen widerspiegelte. Entsetzen, Wut, Traurigkeit. Dazwischen schlich sich ein zaghaftes Lächeln, das die Welt um sie herum zu einem besseren Ort zu machen schien.           Während ich meine Cola schlürfte, beobachtete ich, wie sich ihr Gesicht mit jeder Zeile, die sie las, veränderte. Mit jeder Veränderung schlug mein Herz schneller. Es war, als wäre ich in sie eingetaucht, als fühlte ich, was sie fühlte.
   Plötzlich hob sie den Blick. Sie sah sich nicht um. Sie suchte auch nicht nach dem Kellner, um zu zahlen. Soweit ich sehen konnte, trank sie Kaffee. Sie hob den Blick und fixierte mich, so als hätte sie die ganze Zeit gewusst, dass ich sie anstarrte. Oder als wäre ich ein Magnet, der ihren Blick angezogen hatte. Sie kniff die Augen zusammen. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Was hatte ich mir nur gedacht? Sie so unverblümt anzustarren, als wäre sie ein Ausstellungsstück in einer Galerie?
   Ich nahm einen großen Schluck von meiner Cola und stand auf. Ich musste hier raus. Ich schnappte meine Jacke, die über der Stuhllehne hing und schlüpfte hinein.
   „Du gehst schon?“, fragte eine Stimme, süß wie Milch mit Honig.
   Ich hob den Kopf und blickte direkt in ihre Augen, die hellbraun und durchsetzt von zahlreichen goldenen Punkten waren. Aus der Nähe war sie noch viel schöner. Ich schluckte.
   „Ich ...“
   Sie setzte sich auf einen Stuhl und sah mich erwartungsvoll an. „Ich bin Maja“, erklärte sie und lächelte.
   „Lena“, erwiderte ich, unsicher, was ich tun sollte.
   „Willst du dich nicht setzen?“ 
   Wortlos ließ ich meinen Po auf den Stuhl gleiten. Der pickelige Typ tauchte neben mir auf. „Noch was zu trinken für euch?“
   Ich blickte Maja an. „Einen Cappuccino, bitte.“
   „Dasselbe für mich.“
   „Du musst doch nicht gleich los, oder?“, fragte sie und lächelte mich mit diesem Lächeln an, das sich wie eine Wärmeflasche auf meinen Bauch legte.
   Ich schüttelte den Kopf und wünschte, das Blut würde aus meinen Wangen verschwinden. Bestimmt sah ich aus wie ein Kleinkind nach einer Rodelpartie im Winter, wenn die schneegeküssten Backen rot leuchteten. „Ich habe dich hier noch nie gesehen“, begann ich, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
   „Ich dich auch nicht.“ Sie lachte. „Nein, im Ernst. Ich wohne in Wien. Ich bin hier nur zu Besuch.“
   Mein Herz rutschte eine Etage tiefer. War ja klar. „Was machst du in Salzburg?“
   „Ich besuche meinen Vater.“ Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee. „Meine Eltern haben sich getrennt, als ich zehn war.“
   „Das tut mir leid“, erwiderte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. 
   „Muss es nicht. Es ist gut so, wie es ist.“
   Ich lächelte. Ich wünsche, ich könnte dasselbe über mein Leben sagen.
   „Und was machst du in Wien?“
   „Ich besuche ein Gymnasium. Ich will später Ärztin werden.“
   „Cool!“, sagte ich, nicht ohne Ehrfurcht. „Ich gehe auch auf ein Gymnasium.“
   „Was willst du später einmal machen?“
   Ich zuckte die Achseln. Ich konnte ihr schlecht erzählen, dass ich erst mal diesen Tag überleben musste. Dann den nächsten. Und den nächsten. Ich machte keine Pläne. Ich versuchte irgendwie, durch den Tag zu kommen. Das Jetzt zu bewältigen. Wie sollte ich wissen, was in einigen Jahren war?
   „Irgendwas mit Tieren“, erwiderte ich daher. „Ich mag Tiere. Sie sind ...“ Ich suchte nach dem passenden Begriff. „... echt. Authentisch. Sie lügen dir nichts vor.“
   Maja hielt einen Augenblick inne. „Klingt, als hättest du schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht.“
   Ich antwortete nicht. Was hätte ich auch sagen sollen?
   „Ich verstehe, was du meinst“, erwiderte sie schließlich. „Die meisten Menschen sind scheiße.“
   Ich lachte. Das schien ihr zu gefallen.
   „Welche Tiere magst du besonders?“, wollte sie wissen, während sie einen Finger in den Schaum ihres Cappuccinos steckte und ableckte.
   „Hunde“, erwiderte ich, ohne nachdenken zu müssen. „Sie sind treu, lernen schnell und labern dich nicht voll.“
   „Das machen wohl die wenigsten Tiere“, gab Maja lachend zurück. „Von einem Papagei mal abgesehen.“
   „Hast du einen Hund?“
   Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Ich schüttelte den Kopf. Das Bild von Charly tauchte unvermittelt vor meinem inneren Auge auf. Er tobte durch unseren Garten wie ein wild gewordener Stier, wenn man einen Stock oder einen Ball warf. Einmal hatte mein Vater mit meinem Bruder Jonas Frisbee gespielt. Charly war überzeugt davon gewesen, dass das Spiel ausschließlich zu seiner Unterhaltung organisiert worden war. Er war von meinem Vater zu Jonas gejagt, bis er den Frisbee schließlich zu fassen bekommen hatte. Dann hatte er sich mit seiner Beute hinter den Schuppen verzogen und die Scheibe zerkaut, bis sie ein Fall für die Mülltonne war. 
   Eine Träne schlich sich in meinen Augenwinkel. Angewidert wischte ich sie mit einem Finger weg.
   „Alles in Ordnung?“, fragte Maja.
   „Alles bestens“, log ich.
   „Wie hieß er?“
   Ich hob eine Augenbraue.
   „Dein Hund“, präzisierte sie.
   „Charly.“ Ich fürchtete, Maja könnte fragen, was mit ihm geschehen war, aber zum Glück schwieg sie. Der Verlust war noch zu frisch, als dass ich darüber hätte reden können. Außerdem kannte ich Maja gar nicht.
   „Meine Eltern haben hier geheiratet“, wechselte sie das Thema.
   „In Salzburg?“
   Sie nickte. „Im Schloss Mirabell.“
   „Wunderschön“, bestätigte ich. „Menschen aus aller Welt reisen her, um dort getraut zu werden.“
   „Zeigst du es mir?“
   „Das Schloss Mirabell?“
   „Ja.“ Sie lächelte. „Bitte!“
   „Warst du noch nie dort?“
   Sie schüttelte den Kopf. „Ich komme nicht so oft zu Besuch und wenn, dann verbringe ich die meiste Zeit mit meinem Vater.“
   Ich winkte dem Typen zu, dessen Gesicht von Aknenarben übersät war, und bezahlte. Wir schlenderten durch die Getreidegasse, die wie ein eigener Organismus pulsierte. Touristen aller Nationalitäten machten Fotos von Mozarts Geburtshaus oder holten sich ein paar Kugeln Eis in der „Eisgrotte“. 
   „Hier kriegt man ja Platzangst“, flüsterte Maja und hakte sich bei mir unter.
   „Da vorne ist ein Durchgang. Dann wird es ruhiger.“
   Wir bogen rechts ab und liefen durch einen Torbogen, der in einen Innenhof mit zahlreichen Geschäften führte. Mit einem Schlag verstummte der Lärm für einen kurzen Moment, ehe wir den Hanuschplatz erreichten. 
   „Hier entlang!“, sagte ich zu Maja und überquerte mit ihr am Arm die Straße. Es fühlte sich gut an, die Haut ihres Unterarms an meinem zu spüren.
   „Das ist der Makartsteg“, erklärte ich ihr, als wir eine Brücke überquerten, die mit unzähligen Schlössern behangen war. Liebesbekundungen von Verliebten und Paaren. Maja blieb stehen und machte ein Foto. 
   „Und jetzt lächeln!“, rief sie und aktivierte den Selfie-Modus an ihrem Handy. 
   Ich streckte keck die Zunge nach rechts und machte eine Grimasse. Maja kicherte. 
   „Und jetzt noch ein schönes!“
   Ich legte den Arm um Majas Schulter und neigte mich nach rechts, bis sich unsere Köpfe berührten. Meine Haut kribbelte.
   „Gibst du mir deine Nummer?“, fragte sie. „Dann schicke ich dir die Bilder.“
   Ich nickte und nannte ihr eine Folge von Ziffern. Ein Pling kündigte an, dass die Fotos auf meinem Mobiltelefon angekommen waren. Ich grinste zufrieden.
   „Da vorne ist der Mirabellgarten“, kündigte ich an, als wir die Schwarzstraße erreichten.
   Maja nickte zufrieden. „Sag mal, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du aussiehst wie ein Bub?“
   Ich stutzte. Meine Wangen bekamen wieder Farbe.
   „Ja. Ist schon vorgekommen“, wich ich aus.
   „Und?“, fragte sie.
   „Und was?“
   „Wie reagierst du dann? Stellst du das richtig? Oder willst du, dass die Leute dich für einen Kerl halten?“
   Ich seufzte. Die Leichtigkeit der letzten Stunde strömte aus meine Poren. Zurück blieb das bittere Gefühl, nicht richtig zu sein. Nicht zu entsprechen. Anders zu sein. 
   „Warum ist das wichtig?“, fragte ich und meine Stimme klang belegt. 
   Maja blickte mir direkt in die Augen. „Ist es nicht.“
   „Wieso fragst du dann?“ 
   „Ich bin nur neugierig.“
   „Hast du mich für einen Typen gehalten?“, fragte ich sie. „Als du mich im Café gesehen hast.“
   Maja blieb stehen und legte den Kopf schief. Ihre bernsteinfarbenen Augen glitzerten in der Sonne. „Ist das wichtig?“, gab sie zurück.
   Ich musste lachen. „Nein. Ist es nicht. Ich bin nur neugierig.“
   Wir schauten uns an und lachten. Die Sonne warf lange Schatten auf den Asphalt, während wir die Stufen zum Schloss Mirabell hinunterliefen. Bunte Blumenbeete und saftige Wiesen umsäumten das imposante Gebäude. 
   „Das ist es also?“, fragte Maja und legte den Kopf in den Nacken. 
   „Das ist es“, bestätigte ich. 
   Sie breitete die Arme aus und drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse. Ich tat es ihr gleich, bis mir schwindlig wurde und der Boden unter meinen Füßen schwankte. 
   „Kann man hineingehen?“, wollte Maja wissen.
   „Klar“, erwiderte ich und zog sie durch eine schwere Tür, die direkt zur berühmten Marmortreppe führte. „Der Marmorsaal wird wohl verschlossen sein, aber wir können hier ein paar Fotos machen.“
   Maja nickte eifrig. Wir beobachteten ein frisch vermähltes Paar, das die Treppe Herunterschritt. Die Frau trug ein Brautkleid aus Tüll und Spitze, der Bräutigam einen dunklen Anzug mit weinroter Krawatte und Stecktuch. Beide strahlten über das ganze Gesicht. Maja warf sich auf einer der oberen Stufen neben einem Engel, der warnend den Finger hob, in Pose und wartete darauf, dass ich sie fotografierte. Dann schlichen wir die Stufen zum Marmorsaal hinauf. Die Tür stand offen. Wir spähten ins Innere des Raumes. Maja blieb der Mund offen stehen. Eine Reihe festlich gekleideter Menschen spazierte soeben aus dem Saal, vermutlich die Festgesellschaft des Brautpaares, das wir zuvor beobachtet hatten. Maja und ich nickten der Nachhut artig zu. Maja musterte die hohen Fenster, den Stuck an den Wänden und der Decke und die vergoldeten Ornamente und Kerzenleuchter. Auf dem Tisch und in den Ecken des Raumes standen große Vasen, aus denen weiße und gelbe Rosen ragten. Majas Lippen waren leicht gekräuselt. 
   „Wunderschön, nicht wahr?“, fragte sie, während sie durch den Raum schwebte.
   Ich nickte. 
   „Ich verstehe, warum Menschen von überallher kommen, um sich hier das Ja-Wort zu geben.“
   „Es ist wirklich ein ganz besonderer Ort“, bestätigte ich.
   „Was macht ihr hier?“ Eine Stimme schnitt durch die andächtige Stimmung wie ein Frühstücksmesser durch Butter.
   Ich drehte mich um. „Ich ... wir ...“, stammelte ich, als ich einen dicken Mann in einem dunkelblauen Anzug direkt hinter mir bemerkte. 
   „Meine Eltern haben hier geheiratet“, kam mir Maja zu Hilfe. „Ich wollte diesen Raum unbedingt sehen.“
   Der Mann fuchtelte wild mit den Händen durch die Luft. „Ihr könnt nicht einfach hereinspazieren. Für eine Besichtigung muss man einen Termin vereinbaren.“
   „Entschuldigung“, presste ich hervor und schnappte Majas Arm. „Wir sind schon weg.“
   „Das wird auch gut sein“, schimpfte der Dicke, als wir aus dem Raum schlüpften. „Das nächste Brautpaar wird jeden Augenblick eintreffen.“
    Maja und ich flogen die Stufen so hastig hinunter, dass wir das nächste Brautpaar beinahe umgerannt hätten. Als wir aus dem Gebäude traten, mussten wir beide lachen. 
   „Komm! Ich zeig dir meinen Lieblingsplatz.“ Ich zog Maja ein Stück weiter. Der Kies knirschte unter unseren Turnschuhen. 
   „Wo gehen wir hin?“, wollte Maja wissen.
   „Einen weiteren schönen Platz besuchen“, gab ich zurück. „Einen, für den man ganz bestimmt keinen Besichtigungstermin braucht.“
   Ich hüpfte eine kleine Treppe hoch, die vom Mirabellgarten zu einer Bastei führte, die dem Schloss vorgelagert war. 
   „Voilà!“, sagte ich und breitete die Arme aus. „Willkommen im Zwergerlgarten.“
   Maja kicherte, während sie den von Bäumen gesäumten Platz überquerte und von Steinzwerg zu Steinzwerg wanderte.
   „Ein bisschen gruselig, findest du nicht?“, fragte sie mich.
   Ich zuckte die Achseln. „Finde ich gar nicht. Die stammen aus dem Barock.“ Ich grinste. „Da gab es halt ein anderes Schönheitsideal als heute.“
   Maja ließ sich auf eine Parkbank fallen. „Und wieso ist das dein Lieblingsplatz?“
   Ich schloss die Augen und genoss die Sonne auf meinem Gesicht. „Als ich noch klein war, ist meine Mama immer mit mir und meinem Bruder Jonas hierhergekommen. Jonas und ich haben hier verstecken gespielt. Das war eine coole Zeit!“
   Maja kniff ein Auge zusammen. „Klingt, als würdest du die Zeit vermissen.“
   Ich antwortete nicht. „Manchmal wäre ich gerne wieder ein Kind. Damals war alles so einfach.“
   „Hmmh“, machte Maja. „Ich weiß nicht. Ich finde es eigentlich schon besser, selbst Entscheidungen treffen zu können.“
   Ein schrilles Klingeln unterbrach unsere Unterhaltung. Maja fischte ihr Mobiltelefon aus ihrer Hose und warf einen Blick auf das Display.
   „Ich muss los“, sagte sie und sprang auf.
   „Okay.“ Mein Herz klopfte. Sollte ich einfach sagen, dass ich sie gern wiedersehen würde? Was, wenn sie froh war, mich los zu sein?
  „Ich schreibe dir später.“ Ihre bernsteinfarbenen Augen blitzten entschlossen.
   Ich starrte ihr hinterher, als sie ging. Ich wandte den Blick erst ab, als sie nur mehr ein kleiner Punkt am Ende des Mirabellgartens war. Mein Grinsen war so breit, dass es von einem Ohr zum anderen reichte. Vielleicht, dachte ich, als ich mich auf den Weg zur Bushaltestelle machte, war es doch ganz cool, kein Kind mehr zu sein.

Leseprobe "Ine-ane-u und tot bist du"



Prolog – Juli 1992

   Später würden sie es auf das Bier schieben, das sie bei ihrer letzten Rast, kurz nach Villach, getrunken hatten. Es war wieder einmal nicht bei dem einen geblieben, obwohl Tim der Fahrer war. Er hätte es besser wissen müssen, zumal er nicht nur für seine Freunde, sondern auch für seinen jüngeren Bruder die Verantwortung trug. Seit dem Tod ihrer Mutter, vor ein paar Jahren, war es häufig seine Aufgabe, sich um den Kleinen zu kümmern. So hatte ihr Vater ihn auch dieses Mal gebeten, ihn auf den Wochenendausflug nach Jesolo mitzunehmen. Was sollte er dagegenhalten? Sein Vater war alleinerziehend und berufstätig. Da musste er, als junger Erwachsener, einsehen, dass er gelegentlich zurückstecken musste. Doch gerade dieses Mal wäre er gerne alleine mit seiner Clique unterwegs gewesen. Es kam nicht häufig vor, dass seine Freundin Claudia und er ein paar Tage ungestört waren. Die anderen hatten ein bisschen Koks geschnupft, das sie in Jesolo von einem Barkeeper gekauft hatten. Gutes Zeug. Da waren sich alle einig.

Simone betatschte Hannes unentwegt vom Rücksitz aus, während Sabine und Walli, der eigentlich Andi hieß, aus dem Fenster stierten. Er hatte die Vermutung, dass sich etwas zwischen den beiden abgespielt hatte - während ihres verlängerten Wochenendes an der Adria - aber was auch immer es war, es schien kein Happy End gegeben zu haben. Sein Bruder hing in seinem Gurt und schlief. Beim Blick in den Rückspiegel bemerkte er, dass dem Kleinen Sabber über das Kinn lief. Tim schmunzelte. Die Party gestern am Strand war wohl zu viel für den Jüngsten in der Runde gewesen. Irgendwann war er neben dem Lagerfeuer eingenickt und nicht einmal mehr aufgewacht, als sie ihn in die Pension getragen und ins Bett gelegt hatten.
   Das Essen lag Tim schwer im Magen. Er rutschte unruhig auf dem Fahrersitz umher. Einen Moment lang hatte er befürchtet, die Beamten an der italienisch-österreichischen Grenze könnten ihn aufhalten, weil sie seine Bierfahne bemerkten, doch der junge Kerl, kaum älter als sie selbst, warf nur einen flüchtigen Blick auf die Pässe, die sie aus den geöffneten Fenstern hielten und winkte den hellblauen VW-Bus durch. Claudia lehnte sich erleichtert an ihn und seufzte.
   „Siehst du? Alles gut. Noch zwei Stunden, dann sind wir zuhause.“
   Er nickte und drehte das Radio ein wenig lauter. Die italienische Sonne prickelte noch auf seiner Haut genauso wie Claudias feuchte Küsse. Er konnte das Meeresrauschen hören und den Sand zwischen seinen Zehen spüren. Morgen hatte ihn der Alltag wieder. Wie gern wäre er noch eine Weile geblieben.
   Die nächsten Stunden plätscherten ereignislos dahin. Gelegentlich vernahm man ein leises Schnarchen oder Grunzen von den hinteren Sitzen, wenn wieder jemandem aus der Gruppe die Augen schwer vom Bier wurden. Zwischendurch wurde hitzig über die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA diskutiert. Während die einen den konservativen Kurs von George H. W. Bush befürworteten, hofften die anderen auf einen Wahlsieg des Demokraten Bill Clinton.
   Als sie Bischofshofen erreichten, merkte er, wie die Müdigkeit ihn zu übermannen drohte. Er drehte die Musik lauter, was ein leises Raunen seiner Mitfahrer zur Folge hatte.
   „Haben wir noch ein Red Bull?“, fragte er Claudia, die daraufhin in ihrem Rucksack kramte und ihm eine Dose reichte. 
   „Ist bestimmt schon warm“, meinte sie, als er die Lasche von der Dose zog.
   „Hauptsache, es macht munter“, erwiderte er und warf einen Blick auf das Armaturenbrett. Es war 23:10 Uhr. Bald hätten sie es geschafft. Er würde zuerst Hannes und Simone in Thalgau absetzen. Walli und Sabine wohnten beide in der Stadt Salzburg, kaum zehn Minuten vom Haus seines Vaters entfernt. Claudia würde bei ihm übernachten. Die A10 dehnte sich vor ihm aus wie eine endlos lange Neon-Schlange. Es waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs. Er merkte, wie sein rechtes Bein einschlief. Die Lichter verschwammen vor seinen Augen. Die Dunkelheit legte sich schwer auf seine Lider. Er zuckte zusammen. War er kurz eingenickt? Er vergewisserte sich, dass er die Spur gehalten und niemand seinen Einbruch bemerkt hatte. Claudias Kopf lag schwer an seiner Schulter. Ihre blonden Locken fielen ihr wirr ins Gesicht. Er lächelte. Hannes hingegen war sein Sekundenschlaf nicht entgangen.
  „Rutsch rüber“, forderte Hannes ihn auf, während er sich  bereits zwischen Claudia und ihn drängte und sich vor das Lenkrad schob.
  Widerstandslos überließ er Hannes den Fahrersitz und rutschte zu Claudia hinüber, die schlaftrunken für einen kurzen Moment die Augen öffnete.
    In Thalgau setzte Hannes den Blinker und verließ die Autobahn. Nur wenige Minuten trennten sie von ihrer ersten Station, dem Bauernhof seiner Familie. Das letzte Stückchen führte die B 320 entlang. Die Beleuchtung war hier deutlich schlechter. Er kniff die Augen zusammen, um sich in der Dunkelheit orientieren zu können. Im Fond des Wagens erwachten allmählich alle. Es wurde gekichert und gesungen. Hannes und Tim warfen einen Blick nach hinten. Im Nachhinein fragte sich Tim, ob dieser kurze Augenblick den Unfall verursacht hatte.
   Die Kurve tat sich in der Sekunde vor ihnen auf, als sie die Köpfe nach vorne wandte. Das Adrenalin schoss durch ihre Körper. Mit Müh‘ und Not gelang es Hannes, den Wagen sicher aus der Kurve zu steuern. Die Fahrbahn war durch ein steil abfallendes Waldgebiet begrenzt. Tims Herz trommelte wild in der Brust. Langsam atmete er aus. In diesem Augenblick gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Der VW-Bus war gegen etwas geprallt und schlingerte nun unkontrolliert über die Bundesstraße. Die Bremsen jaulten. Im Wageninneren schrien die Mädchen. Der Abgrund näherte sich bedrohlich. Die Nadelbäume ragten in die Dunkelheit wie Speere. Er schickte ein Stoßgebet Richtung Himmel. Das Quietschen der Reifen dröhnte durch die Finsternis. Und dann – endlich – kam der Bus zum Stehen. Er atmete geräuschvoll aus. 
   „Irgendjemand verletzt?“
Alle verneinten. Sabine weinte leise. Walli legte tröstend einen Arm um sie.
   „Was war das?“, fragte Simone.
   „Ich habe keine Ahnung“, erwiderte er, „aber das werden wir gleich wissen.“ Er öffnete die Beifahrertür. Die kühle Nachtluft streichelte seine Haut und machte ihn hellwach.
   „Da ist nichts“, meinte Hannes, der die Straße zurück spähte, während er sich eine Marlboro anzündete. 
   „Du musst doch gesehen haben, wogegen du gefahren bist“, erwiderte Claudia an Hannes gewandt. 
   Hannes zuckte die Achseln. „Ich konnte nichts sehen. Wild wahrscheinlich.“ Er holte eine Taschenlampe aus seinem Rucksack und wanderte die Straße entlang, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Tim folgte mit den anderen im Schlepptau. Sein kleiner Bruder rieb sich die Augen und kroch verschlafen aus dem Wagen.
   „Was ist passiert?“, fragte er schlaftrunken.
   „Bleib im Bus!“, befahl Tim und sein Tonfall ließ seinen kleinen Bruder in der Bewegung erstarren.
   Sie suchten die Straße ab und bewegten sich am Fahrbahnrand entlang.
   „Da!“, rief Walli schließlich und stürzte auf etwas zu, das am Rand der Straße lag.
   „Ein Reh?“, wollte Sabine wissen. „Ich kann tote Tiere nicht ansehen.“
   „Nein, kein Reh“, erwiderte Walli mit bebender Stimme.
Die anderen erreichten ihn Sekunden später. Sie alle starrten auf das, was verdreht und mit offenen Augen vor ihnen lag. Überall war Blut. Simone schlug eine Hand vor den Mund. Sabine drehte sich weg und übergab sich.
   „Um Gottes willen! Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Walli und suchte Halt an Tim, der hoffte, jeden Augenblick aus einem surrealen Alptraum zu erwachen.
   „Ich habe keine Ahnung“, entgegnete Tim und starrte auf den Mann, den sie angefahren hatten.
   „Was macht er hier draußen, mitten in der Nacht?“, fragte Simone.
    „Vielleicht ein Obdachloser“, meinte Hannes.
    „Er wirkt aber recht gepflegt“, warf Walli ein.
   Rasch ging Hannes in die Hocke und legte dem Unfallopfer zwei Finger auf die Halsschlagader. 
   „Lebt er?“, fragte Simone.
   Hannes schüttelte den Kopf. „Nein. Er ist tot.“
In den folgenden Minuten trafen sie eine folgenschwere Entscheidung.

Hinter einer Fichte, nur wenige Meter vom Unfallort entfernt, beobachtete ein Augenpaar die Geschehnisse. Niemand ahnte, dass der Unfall sie viele Jahre später einholen sollte. 
Alex

Der Wind fegte eisig durch die Gassen, als Alex mit hochgeschlagenem Kragen und tief ins Gesicht gezogener Mütze auf das Café Bazar zusteuerte. Oft brachte der Föhn in Salzburg im Februar milde Temperaturen, doch heuer wollte der Winter die Stadt nicht loslassen. 
   Alex öffnete die Tür und steuerte auf einen freien Tisch am Fenster zu. Sie rieb ihre verfrorenen Finger aneinander, bis sie unter der Wärme kribbelten. Sie bestellte einen doppelten Espresso und wartete auf Iris. Eigentlich war sie überrascht, dass ihre frühere Affäre sich bei ihr gemeldet hatte. Sie hatten sich jahrelang nicht gesehen und Alex wusste auch jetzt nicht recht, ob es klug war, sich mit ihrer alten Flamme zu treffen. Vielleicht lag es an dem Frust, den sie nicht loswurde, seit sie geplant hatte, ihrer Ex-Freundin Elli einen Heiratsantrag zu machen. Seit Elli entführt und beinahe in die Luft gejagt worden wäre, musste Alex ständig an sie denken. Sie war so sicher gewesen, dass auch Ellis Gefühle für sie wieder aufgeflammt waren. Sie freute sich, dass Elli ihre leibliche Tochter gefunden hatte und ihr ehemaliger Verlobter Sebastian deren gemeinsames Kind durch die Spende von einem Teil seiner Leber hatte retten können. Doch sie würde nie vergessen, wie sehr Elli sie verletzt hatte, als Sebastian Elli im Rehazentrum geküsst hatte. Just an dem Tag, an dem Alex sich entschieden hatte, zu ihr zu fahren, um ihr einen Heiratsantrag zu machen. Am nächsten Tag hatte sie ihre Wohnung gekündigt und war zu ihrer Großmutter gezogen. Wenigstens die hatte sie damit glücklich gemacht. Ihre Oma genoss es, Alex zu verwöhnen, für sie zu kochen und zu backen. Alex übernahm dafür Einkäufe und andere Erledigungen und kümmerte sich um Reparaturen, die im und um das Haus anfielen. Außerdem ließ sich nicht länger leugnen, dass ihre Oma Hilfe brauchte und gelegentlich alleine in dem großen Haus überfordert war.
   „Na, schöne Frau!“, hauchte eine tiefe Stimme, die ihr wohl vertraut war. Eine große Rothaarige beugte sich zu Alex hinunter und küsste sie auf die Wange. Alex blickte zu der 1,80m großen Frau hoch, die die Aufmerksamkeit sämtlicher Gäste auf sich zog.
   „Iris!“ Alex lächelte, unsicher, wie sie mit der Situation umgehen sollte.
   „Schön, dass wir es wieder einmal geschafft haben“, bemerkte Iris, als handelte es sich um ein Treffen, das in regelmäßigen Abständen stattfand.
   „Das finde ich auch“, erwiderte Alex und rief den Ober an den Tisch. 
   „Was darf ich Ihnen bringen?“
   „Grünen Tee für mich, danke.“ Iris warf dem Ober ein betörendes Lächeln zu.
   „Ich nehme noch einen Kaffee.“
   „Also, was hast du so getrieben in den letzten Jahren?“ Alex beäugte ihre Ex-Flamme neugierig.
   „So dies und das. Ein paar Modelaufträge. Ein paar kleinere Nebenrollen für Fernsehfilme. Der große Durchbruch lässt noch auf sich warten.“
    Alex nippte an ihrem Espresso. „Klingt spannend. Dann bist du also am besten Weg, im Showbiz Karriere zu machen.“
   „Ganz so glamourös ist es leider nicht. Modeln ist harte Arbeit und ich werde nicht jünger. Aber die Schauspielerei würde mir schon gefallen.“
   Alex lächelte. „Ich kann mir gut vorstellen, dass du fürs Rampenlicht geschaffen bist“, erwiderte sie. „Du ziehst jedenfalls immer noch alle Blicke auf dich.“
   Iris klimperte kokett mit den Wimpern. „Und du? Was machst du so? Immer noch auf Verbrecherjagd?“
   Alex nickte. „Ich bin wohl kaum der Typ, den eine Modelagentur unter Vertrag nehmen würde.“
   „Sag das nicht!“, warf Iris ein. „Du bist bildhübsch. Schlank. Burschikos. Die Agenturen suchen heutzutage nach außergewöhnlichen Typen. Null-acht-fünfzehn ist längst out.“
   Alex errötete. „Ich verhafte lieber die bösen Jungs“, erklärte sie.
   „Und privat? Bist du noch mit diesem Mädchen zusammen? Wie hieß sie gleich?“
   Alex spürte einen Stich in der Brust, als Ellis sanfte Gesichtszüge vor ihrem inneren Auge auftauchten. „Elena. Elli.“ Ihr Mund wurde trocken. „Nein. Wir haben uns vor einiger Zeit getrennt.“
   Iris verzog das Gesicht und tastete nach Alex‘ Händen. „Oh, das tut mir sehr leid. Ich dachte damals, dass sie die Richtige für dich wäre.“
   Das dachte ich auch, schoss es Alex durch den Kopf.
„Schon okay. Ist bereits eine Weile her“, murmelte sie stattdessen. „Und du? Verheiratet? Kinder?“
   Iris schüttelte ihr langes, volles Haar. „Gott bewahre! Ich und ein Kind. Das passt nicht zusammen. Und die Ehe ist etwas für die ewig Gestrigen. Die ist definitiv nichts für mich.“
   Alex spürte einen weiteren Stich im Herz. „Iris“, begann sie vorsichtig. „Warum hast du mich angerufen?“
   Iris lachte und entblößte zwei Reihen perfekt gebleichter Zähne. „Der alten Zeiten wegen“, flötete sie und ihre feingliedrigen Finger schlossen sich um die von Alex.
   Alex beäugte sie misstrauisch. Sie kannte Iris. Wenn sie sich nach all diesen Jahren bei ihr meldete, dann gab es einen Grund. „Und weiter?“
    Iris nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Tee. „Nichts weiter.“ Sie blickte mit großen Rehaugen von unten nach oben. Alex war sicher, dass sie diesen Blick stundenlang vor dem Spiegel geübt hatte. „Ich hatte immer viel Spaß mit dir. Ist das so schwer zu glauben?“
   Alex‘ Augen verengten sich. „Und das ist dir plötzlich nach wie vielen Jahren wieder eingefallen?“
   Iris lachte verführerisch. „Ich habe dich kürzlich gesehen. Im Supermarkt.“
   Alex runzelte die Stirn. „Ich kann mich nicht erinnern, dich irgendwo gesehen zu haben. Wieso hast du mich nicht angesprochen?“
   Iris zog ihre Hände zurück und betrachtete ihre Fingernägel, als fände sie dort die Antwort. „Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Ich hatte einen Mann im Schlepptau. Es hat einfach nicht gepasst.“
    Alex seufzte leise. Das war das Problem mit Iris. Es gab IMMER irgendeinen Mann. Eine Frau reichte ihr offensichtlich nicht. 
   „Deshalb bevorzuge ich Frauen, die auf Frauen stehen, die  ... weniger flexibel sind.“
   „So wie deine Elli?“, fragte Iris.
   Das hatte gesessen. Iris wusste genau, dass Elli früher Männer geliebt hatte. 
   „Lassen wir Elli da raus“, schoss Alex zurück, als sie einen Mann erspähte, den sie kannte. 
   „Es gibt da schon etwas, das ich dir erzählen muss“, begann Iris und wirkte mit einem Mal sehr ernst.
   Alex reckte den Kopf, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht geirrt hatte. Es war Theo, ihr Kollege, mit einer hübschen brünetten Frau im Schlepptau. Theo entdeckte Alex und steuerte auf deren Tisch zu.
   „Na, wenn das kein Zufall ist!“, begrüßte er sie mit einem breiten Grinsen. Er streckte Iris die Hand entgegen und stellte sich vor. „Darf ich euch meine Freundin Caroline vorstellen?“
   Alex begutachtete die Frau wohlwollend. Sie war Mitte dreißig, mit einem zarten Porzellanteint und eigentlich viel zu natürlich, um Theos Typ zu sein. Eigentlich war das eher der Typ Frau, von dem Alex sich angezogen fühlte. Theo stand auf blond, vollbusig, langbeinig mit zu viel Make-up und künstlichen Nägeln, die in die Kategorie Mordwaffe gehörten. 
   „Setzt euch doch!“, forderte Alex die beiden auf, die die Gelegenheit witterte, Iris‘ Avancen auszuweichen.
   Theo ignorierte Iris‘ vernichtenden Blick und rutschte neben sie auf die Bank. Caroline setzte sich neben Alex. Sie bestellten sich je eine heiße Schokolade und unterhielten sich eine Weile über Gott und die Welt. Caroline arbeitete mit schwer erziehbaren Kindern, was Alex eine dumme Bemerkung darüber entlockte, dass ihr jetzt klar war, warum sie so gut mit Theo zurechtkam. Ihr Kollege verpasste ihr unterm Tisch einen leichten Fußtritt. Alex und Caroline lachten. Alex mochte die Frau auf Anhieb. Dafür wurde sie den Eindruck nicht los, dass Iris Theo nicht ausstehen konnte. Was hatte sie nur gegen ihren Kollegen? Offenbar war das, was sie mit ihr besprechen wollte, wirklich wichtig. Dafür hing Iris an Carolines Lippen, als wäre sie eine Art Guru. Offensichtlich war es Iris einerlei, ob Männlein oder Weiblein. Gegen einen Flirt mit der Freundin eines Frischverliebten schien für Iris jedenfalls nichts zu sprechen. Theos Mobiltelefon klingelte. 
   „Das verheißt nichts Gutes“, verkündete er, ehe er abnahm. Er hörte eine Minute schweigend zu. Dann erwiderte er: „Das wird nicht nötig sein. Sie ist hier.“ Pause. „Gut. Wir sind unterwegs.“
   Alex runzelte die Stirn.
   „Die Arbeit ruft“, erklärte er und wandte sich entschuldigend an Caroline. „Ich muss noch mal los, Schatz.“ Theo legte zwanzig Euro auf den Tisch. „Alex, kommst du?“
   Die vier schlüpften in ihre Mäntel und verließen widerwillig die Wärme des Lokals. Iris verabschiedete sich von Alex mit einem Kuss auf die Wange und versprach, sie anzurufen. Caroline warf Theo eine Kusshand zu und verließ das Café Richtung Bushaltestelle.
   „Was haben wir?“, fragte Alex, während sie ihre klammen Finger in die Jackentasche steckte.
   „Ein vermeintlicher Unfall in Mayrwies. Es gibt ein Todesopfer.“
   „Und da muss gleich die Mordkommission anrücken?“ Alex starrte ihn verständnislos an. 
Ein Streifenwagen hielt vor dem Eingang des Café Bazar. Der Kollege hupte.
   „Tja, es gibt eine Zeugin“, erwiderte Theo.
Alex öffnete die Tür des Wagens und schwang sich auf den Rücksitz. „Und?“
   Theo begrüßte den Kollegen und nahm neben ihm Platz. „Und die behauptet, der Wagen hätte das Opfer ein zweites Mal überrollt.“
   Alex kniff die Augen zusammen.
   „Im Rückwärtsgang.“
   Alex schluckte. „Da wollte jemand aber auf Nummer sicher gehen.“ 

Leseprobe "Hurenkinder"


 August 2000   

Die Schmerzen kamen in Wellen. Sie begannen leise, fast sanft, konzentrierten sich auf einen Punkt in ihrer Mitte, um dann mit voller Wucht in jeder Faser ihres Körpers zu explodieren. Elli krallte ihre Finger in die Bettkante und verzog das Gesicht. Schweiß lief ihr über die Wangen und verklebte ihre Haarsträhnen.
   „Atme!“, flüsterte Kathrin, die neben ihr kauerte und ihre Hand umfasste. „Ein, aus, ein, aus!“
   Gerade, als Elli ihr sagen wollte, sie möge sich zum Teufel scheren, verebbte der Schmerz und sie sank erschöpft in das weiche Daunenkissen, das Kathrin ihr hinter den Rücken gestopft hatte.
    „Du machst das großartig!“, behauptete ihre Freundin und tupfte ihr die Schweißperlen von der Stirn.
    „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe!“, jammerte sie und nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die auf dem Nachtkästchen stand.
    „Natürlich schaffst du das“, erklärte Kathrin und massierte die verkrampften Schultern ihrer Freundin. „Millionen von Frauen vor dir haben das hingekriegt. Warum solltest gerade du das nicht können?“
   Elli zuckte entmutigt die Schultern. „Ich weiß auch nicht. Ich habe ein ungutes Gefühl, als würde irgendetwas schiefgehen.“
   Kathrin strich ihr über das erhitzte Gesicht. „Was soll denn schiefgehen?“
    Sie seufzte. „Hast du vergessen, was mit Svetlana und Annika passiert ist?“
    Kathrin schüttelte den Kopf. „Nein, habe ich nicht. Aber die beiden haben Sergej ihre Schwangerschaft lange Zeit verschwiegen. Du hast ihm gleich reinen Wein eingeschenkt. Das ist etwas anderes.“
   Elli setzte an, etwas zu erwidern, aber die nächste Wehe rollte so heftig an, dass ihr die Luft wegblieb. Sie umklammerte Kathrins Arm, bis diese wimmerte. Ein Schrei bahnte sich den Weg nach oben, aber sie unterdrückte ihn, aus Angst, Sergej zu verärgern. Sie keuchte, als die Wehe endlich verebbte.
    „Sergej hat Svetlana und Annika einfach rausgeschmissen. Kannst du dir das vorstellen? Wenige Stunden nach einer Niederkunft? Das ist doch unmenschlich!“
    „Soweit ich weiß, wollten die beiden weg“, erwiderte Kathrin.
   „Aber doch nicht gleich nach der Geburt!“, rief Elli lauter als beabsichtigt. „Außerdem hat er Svetlana das Kind weggenommen.“
    Kathrin starrte sie entgeistert an. „Wie kommst du denn darauf? Das ist doch Unsinn!“
   „Nein. Ich weiß es genau. Ich habe das Baby schreien gehört, Stunden, nachdem Svetlana das Haus verlassen hatte.“
   Kathrin tätschelte Ellis Wange. „Da hast du dich sicher getäuscht. Du darfst dich nicht aufregen. Du musst dich auf die Geburt deines Babys konzentrieren.“
  Sie öffnete die Lippen, um etwas zu erwidern, aber der Schmerz zwang sie zu schweigen. Sie presste die Lippen aufeinander, stützte sich zu beiden Seiten am Gestell des Bettes ab und atmete gegen die Welle an, die über sie hereinbrach. Das Baby schien sie zu zerreißen. Wie es ihm wohl gehen mochte in dem engen Geburtskanal? Ob es genauso viel Angst hatte wie sie? Als der Schmerz schier unerträglich wurde, schrie sie: laut, schrill, wie ein verwundetes Tier. Sie konnte kaum glauben, dass dieses Geräusch aus ihr gekommen war. Augenblicke später streckte Sergej den Kopf zur Tür herein.
   „Wie geht es voran?“
    Kathrin nickte. „Sie ist erschöpft, aber sie macht das toll!“
   Elli war so müde, dass sie zwischen den Wehen kurz einnickte, bis der nächste Schmerz sie unsanft aus ihren wirren Träumen zerrte. Kathrin schob die Decke beiseite und tastete zwischen ihre Beine.
    „Es ist gleich soweit“, erklärte sie. „Ich kann das Köpfchen fühlen.“
   Elli lächelte matt und wappnete sich für die nächste Wehe. Sie fühlte, wie das Baby kämpfte, wie es versuchte, aus ihr herauszugleiten. Wenn sie ihm nur helfen könnte. Sie musste ihre Kräfte sammeln und ihr Baby nach unten schieben. Sie durfte jetzt nicht aufgeben.
    „Du musst pressen! Jetzt!“, rief Kathrin, die sich zwischen ihren Beinen postiert hatte.
   Elli ritt auf einer Welle aus Schmerz, Angst und Schweiß. Ihre Hände waren klatschnass und trotz der Anstrengung eiskalt. Sie hatte das Gefühl, das Baby würde ihr aus den Händen gleiten, sobald sie es halten durfte. Ihr Unterleib schien zu bersten. Auf diesen Schmerz war sie nicht vorbereitet. Sie war sicher, das Kind würde sie entzweireißen. Und plötzlich hörte es auf. Als hätte jemand eine unsichtbare „Aus“-Taste gedrückt, verschwanden Schmerzen und Anstrengung in dem Augenblick, in dem das schönste Geräusch, das sie je gehört hatte, ihre Ohren füllte: das Schreien ihres Babys. Elli lächelte.
   „Es ist ein Mädchen“, erklärte Kathrin, wickelte das Kind in ein Handtuch und legte es ihr auf den Bauch.
Das Baby war wunderschön mit großen neugierigen Augen, einer winzigen Stupsnase und einem Mündchen, das nach ihren Brüsten suchte.
    „Lina“, flüsterte Elli und küsste ihre Tochter auf die Stirn.
   Kathrin nahm eine alte Polaroidkamera vom Nachttisch und machte ein Foto. Sie wedelte mit dem Bild in der Luft, bis es trocken war, und reichte es der frisch gebackenen Mutter.
    „Zur Erinnerung“, erklärte sie und lächelte.
  Im selben Augenblick öffnete sich die Tür zum Zimmer und Sergej trat ein. Er bedeutete Kathrin, den Raum zu verlassen.
   „Herzlichen Glückwunsch!“
   Sergej betrachtete das kleine Bündel, das sich friedlich an ihre Brust kuschelte. „Ein hübsches Baby.“
   Elli beobachtete jede von Sergejs Bewegungen. Etwas in seiner Stimme machte ihr Angst. Der Unterton? Die Art, wie er sie angrinste? Annika und Svetlana spukten in ihrem Kopf herum.
   „Zeit, dich von deiner kleinen Tochter zu verabschieden“, erklärte Sergej und griff nach ihrem Kind.
    „Was? Nein! Was hast du vor?“ Sie presste das Baby an sich und hielt schützend ihre Hand vor das Kind.
   „Du hast doch nicht gedacht, dass du sie behalten kannst, oder?“, fragte Sergej und seine Stimme dröhnte durch den kleinen Raum wie ein Presslufthammer.
Ihre Lippen zitterten. Sie spürte, wie eine Träne ihren Nasenrücken entlanglief und von ihrer Lippe auf die Bettdecke tropfte. Sergej streckte die Hände nach dem Baby aus. Instinktiv drehte Elli sich mit Lina von ihm weg. Ob sie es schaffen konnte, aus dem Zimmer zu entkommen? Ihre Beine zitterten und sie fühlte warme Flüssigkeit, die aus ihrem Körper lief. Vielleicht konnte sie das Überraschungsmoment nutzen, wenn sie schnell genug war? Linas Geruch drang ihr in die Nase und erfüllte sie mit einer Liebe, die sie nie zuvor für jemanden empfunden hatte. Und mit Furcht. Nie zuvor hatte sie jemanden schützen wollen wie dieses kleine duftende Wesen, das alles war, was sie je gewollt hatte. Als Elli die Beine über den Bettrand schwang, klammerten sich Sergejs Finger um das warme Bündel. Ihr Herz drohte zu bersten. Sie drückte die Kleine an sich. Sie schrie, bis sie heiser war. Jemand kam herein, entriss ihr das Bündel und legte es in eine Decke gewickelt in ein Maxi-Cosi. Das Kind war noch ungewaschen. Sie hatten sich vorbereitet. Von langer Hand geplant. Sie hatten nie vorgehabt, sie ihr Kind großziehen zu lassen. Elli tobte, schrie, drohte, zur Polizei zu gehen. Die Schmerzen bei der Entbindung verblassten, verglichen mit dem, was sie jetzt fühlte. Durch den dichten Tränenschleier war ihre Sicht eingeschränkt. Sie hörte nur ihr Baby schreien. Es schrie nach ihr. Nach seiner Mama. Ellis Herz zerriss. Sie würde dieses Haus verlassen. Sie würde sie alle anzeigen. Sie würde ihre Tochter wiederbekommen. Dann krachte ein Schuss. Sie sank erstaunt auf die Matratze zurück. Ihre Brust brannte. Der Schmerz war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der in ihrem Inneren tobte. Ihr letzter Gedanke galt ihrem Kind. Sie schickte ein Stoßgebet nach oben und betete dafür, dass es ihrer Tochter gut gehen möge. Das war alles, was sie sich wünschte. Dann versank sie in gnädige Dunkelheit.

 
 Elli
 
   Als Elli aufwachte, spürte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Das Kopfpolster fühlte sich fremd an. Es raschelte neben ihrem Ohr, als wäre es mit Styroporkugeln gefüllt. Sie blinzelte und zuckte zusammen. Das grelle Licht schmerzte in ihren Augen. Sie brauchte einen Moment, um ihre Lider zu öffnen. Ihr Kopf tat weh. Wie viel hatte sie gestern getrunken? Sie versuchte, sich aufzusetzen, sackte aber gleich wieder in sich zusammen. Der Raum drehte sich. Sie schloss die Augen, versuchte, das Karussell anzuhalten. Durch ihre halbgeöffneten Lider nahm sie einen purpurfarbenen Samtvorhang wahr. Billige Bettwäsche, die an einigen Stellen Flecken hatte. Ein Kunstdruck an der Wand, von der eine Tapete mit braunem Rautenmuster abblätterte. Die 1970er grüßten erbarmungslos. Elli stützte sich auf ihrem linken Arm ab und wartete, bis der Schwindel verebbte.
   Wo zum Teufel bin ich?, fragte sie sich, als ihr Blick über das Bett wanderte, den Kleiderschrank, dessen rechte Tür offenstand und einen Haufen Kleidung, der achtlos auf dem beigen Plüschteppichboden lag. Sie erkannte ihre Lederjacke und die geblümte Bluse, die sie gestern getragen hatte. Ihr Puls beschleunigte. Sie schwang die Beine aus dem Bett, wartete einen Moment, bis sich das Unwohlsein gelegt hatte und inspizierte das Nachtkästchen neben sich. Ihr Mobiltelefon lag dort. Daneben 300 Euro in bar. Was ging hier vor? Wo war sie? Sie drückte sich vom Bett hoch und sah aus dem Fenster. Schienen. Züge. Menschen, die von A nach B hetzten. Obdachlose. Sie kannte die Gegend, auch wenn sie sie noch nie aus dieser Perspektive gesehen hatte. Sie war in der Nähe des Bahnhofs. Sie atmete erleichtert aus. Sie war zu Hause. In Salzburg. Das war gut! Das war ... Elli stutzte. Aus den Augenwinkeln nahm sie etwas im Raum wahr, das sie nicht gleich zuordnen konnte. Ein Schuh. Ein brauner Lederschnürer. Teuer. Fein säuberlich poliert. Definitiv nicht ihrer. Sie hatte gestern weiße Sneaker getragen. Ein Blick über ihre Schulter bestätigte ihre Erinnerung. Die Turnschuhe thronten unübersehbar auf ihrer Levi´s. Elli atmete tief ein, machte einen Schritt, dann noch einen, bis ihr Blick über das Bettende fiel. Im Bruchteil einer Sekunde verarbeitete ihr Hirn das skurrile Bild: Am Boden lag ein Mann, reglos, in einem grauen Anzug mit einer Seidenkrawatte. Sein Gesicht war zerschmettert. Ein blutiger Brei aus Fleisch. Sie wich einen Schritt zurück, schluckte die Spucke hinunter, die sich mit einem Mal wie ein Binnensee in ihrer Mundhöhle gesammelt hatte. Ihr Herz raste. Wer war dieser Mann? Wo war sie? Und vor allem: Was hatte sie hier mit ihm gemacht?
Sie setzte sich auf die Bettkante. Der Plüschteppich kitzelte ihre nackten Fußsohlen. Sie hörte ihr Blut in den Ohren rauschen. Sie starrte den Mann an. Kannte sie ihn? Vom Gesicht war wenig übrig. Sie versuchte, etwas an ihm zu erkennen, das ihr bekannt vorkam. Vergeblich. Das, was einmal sein Gesicht gewesen war, war großteils zertrümmert. Die Nase neigte sich wie ein Häufchen Faschiertes in einem unnatürlichen Winkel nach links. Elli bemerkte, dass er volle, geschwungene Lippen hatte. Sie schauderte. Der Schock setzte so plötzlich ein, dass sie es erst merkte, als ihre Knie unkontrolliert gegeneinanderschlugen. Ihr Blick fiel auf ihre nackten Oberschenkel, die von Hämatomen übersät waren. Erst jetzt spürte sie, dass ihre Scham sich wund anfühlte. War sie angegriffen worden? Vergewaltigt? Von diesem Mann? Einem Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Sie presste ihre Knie gegeneinander, um das Zittern zu kontrollieren. Als das nichts nützte, sprang sie auf. Die Kopfschmerzen zwangen sie im selben Augenblick in die Knie.           
   Ganz langsam richtete sie sich auf. Und mit einem Mal war da ein Gedanke, der viel schrecklicher war, als der Anblick des erschlagenen Mannes und der Tatsache, dass er mausetot war: War sie das gewesen? Hatte sie den Mann getötet? Sie presste eine Hand vor den Mund, um nicht laut loszuschreien. Was war passiert? Warum erinnerte sie sich an nichts? War sie fähig, einen Menschen zu töten? Sie hastete in dem kleinen Raum auf und ab, sorgfältig bemüht, weder den Mann noch sein Blut in irgendeiner Weise zu berühren. Sie musste nachdenken. Sie musste hier weg. Sie musste ...
  Es klopfte an der Tür. Elli erstarrte in der Bewegung. Ihr Herz schlug so laut, dass sie überzeugt war, der Besucher müsse es hören. Und jetzt?
   „Hallo!“
Erneutes Klopfen.
    „Hören Sie, es ist mir scheißegal, dass Sie eine Nutte zum Vögeln bei sich haben. Ich brauche das Zimmer in einer halben Stunde. Also, sehen Sie zu, dass Sie fertig werden, ja?“ Die Stimme klang kratzig und ungewöhnlich tief. Nach zwei Packungen Zigaretten am Tag. Und nach reichlich Whiskey.
   Elli schluckte. Ihre Hände zitterten. Was sollte sie jetzt nur machen?
   Energischeres Klopfen. „Hey! Wenn Sie hier nicht in 30 Minuten raus sind, rufe ich die Polizei. Haben wir uns verstanden?“
   Elli atmete langsam aus. Hatte sie die ganze Zeit die Luft angehalten? „Schon gut, schon gut! Wir sind gleich weg. Keine Polizei. Hören Sie?“ Sie klang ruhiger, als sie sich fühlte.
    „30 Minuten. Sonst klärt ihr das direkt mit den Bullen.“
   „Alles klar. Wir wollen keinen Ärger“, erwiderte Elli und dachte, dass sie den bereits hatte, ob es ihr passte oder nicht. Vor der Tür entfernten sich schwere Schritte und trampelten über eine knarrende Treppe in das untere Stockwerk. Elli hastete ins Bad und schüttete sich kaltes Wasser ins Gesicht. Sie zitterte noch immer, aber die Schockstarre fiel von ihr ab. Sie musste etwas unternehmen, wenn sie nicht auf direktem Weg ins Gefängnis wandern wollte. Sie schlüpfte in ihre Kleidung und Schuhe. Dann suchte sie im Bad nach etwas, womit sie ihre Fingerabdrücke entfernen konnte. Sie fand ein paar Putztücher im Unterschrank des Waschbeckens. Was hatte sie alles angefasst? Sie hatte keine Ahnung. Akribisch wischte sie über die Armaturen im Badezimmer, den Duschkopf, die Türklinke, das Nachtkästchen und über alle Flächen, die sie möglicherweise angefasst hatte.
   Einen Moment lang überlegte sie, Alex anzurufen. Sie würde wissen, was zu tun war. Aber Alex war nun einmal Polizistin. Wie sollte sie ignorieren, dass Elli im selben Raum mit einem Toten aufgewacht war? Das machte sie zur Hauptverdächtigen. Elli verwarf den Gedanken. Sie musste alleine zurechtkommen. Etwas, woran sie sich im Laufe der Jahre gewöhnt hatte.
   Als sie alle Griffe und Flächen abgewischt hatte, nahm sie ihr Handy vom Nachttisch, ließ es in ihre Handtasche gleiten und hängte ihre Lederjacke über ihre Schultern. Sie warf einen letzten Blick auf den toten Mann, öffnete mit Hilfe des Putztuches die Zimmertür und spähte nach draußen. Die Stille dröhnte in ihren Ohren. Sie atmete tief ein und schlich die Treppen hinunter. Der Tote blieb allein auf dem Plüschteppich am Fußende des Bettes zurück. Daneben lag eine kleine Metallstatue, an der sein Blut klebte. Hätte Elli den Toten aus einem etwas anderen Winkel betrachtet, hätte sie die Mordwaffe vermutlich entdeckt. Und vielleicht hätte sie sogar realisiert, dass sie sie vor vielen Jahren schon einmal gesehen hatte.

 
  Alex
 
Der Anruf kam ungelegen. Einen Moment lang überlegte sie, ihn zu ignorieren. Es war Freitagabend. Sie hatte frei und freute sich auf die Palatschinken ihrer Oma. Die weltbesten Palatschinken aus Freilandeiern des benachbarten Biobauern und feiner, selbstgemachter Marillenmarmelade. Denen konnte sie nicht widerstehen. Außerdem freute sich ihre Oma seit Tagen auf ihren Besuch. Alex hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie es nicht öfter schaffte, sie zu besuchen. Wer auch immer versuchte, sie zu erreichen, war hartnäckig. Alex seufzte und drückte auf ihrer Freisprechanlage auf „Anruf annehmen“.
   „Wild“, meldete sie sich, während sie sich ein Nimm-2 in den Mund stopfte, um ihren sinkenden Blutzuckerspiegel in Schach zu halten.
   „Alex!“, keuchte jemand in den Hörer. „Ein Glück, dass ich dich erreiche!“
Alex verdrehte die Augen. Fragte sich nur, für wen.
   „Paul. Was gibt´s?“
   „Ein Toter in einer Pension. In der Nähe vom Hauptbahnhof.“
   Alex verzog das Gesicht. „Und was hab ich damit zu tun?“
   „Du bist meine beste Ermittlerin. Ich weiß, dass es dein freies Wochenende ist. Ich würde dich nicht fragen, wenn ich eine brauchbare Alternative hätte.“
Alex rümpfte die Nase. Paul Wagner war der Leiter der Mordkommission und ein Chef, wie ihn sich so manche Abteilung wünschen würde. Er hatte im vergangenen Jahr einiges mitgemacht, als ein pädophiler Psychopath nicht nur ein paar junge Mädchen missbraucht und ermordet hatte, sondern er beinahe Bea verloren hätte, die Witwe seines ehemaligen Partners, Max Klein. Wie viel Bea ihm bedeutete, war Alex erst klar geworden, als die schreckliche Geschichte längst überstanden war. Mittlerweile waren Paul und Bea ein Paar und Alex freute sich über deren gemeinsames Glück. Sie wusste, dass er sie nicht bitten würde, wenn er eine andere Option hätte. Sie hasste sich dafür, dass sie ihm nichts abschlagen konnte.
   „Reden wir von Mord?“ 
   „Allerdings“, bestätigte Paul. „Wenn der Besitzer der Pension nicht übertrieben hat, ist nicht viel vom Gesicht unseres Opfers übrig.“
   Alex atmete aus. Sie dachte an die Palatschinken und die Enttäuschung ihrer Oma, wenn sie absagte. Ihr Magen knurrte. Ihre Stimmung sank.
   „Alles klar. Schick mir die Adresse auf mein Diensthandy. Wer vom Team kommt noch?“
   Paul schwieg einen Moment zu lange.
   Alex schlug mit der Hand gegen das Lenkrad und betätigte unfreiwillig die Hupe.
   „Nicht dein Ernst, Paul!“ 
   „Es tut mir echt leid, Alex. Wie gesagt, ich habe sonst niemanden.“
    „Was ist mit dir?“, erkundigte sich Alex.
   „Bea hat heute Geburtstag. Ich habe Karten für die Festspiele. Medea.“ Er zögerte. „Aber ich muss sie nicht begleiten, wenn ...“
   „Vergiss es!“, erwiderte Alex und wendete ihren Seat Ibiza an der nächsten Kreuzung. „Ich werde schon fertig mit dem gelackmeierten Affen.“
   „Danke, Alex! Ich schulde dir was“, entgegnete Paul. Sie hörte seine Erleichterung förmlich.
   „Ja“, erklärte sie. „Und ich werde dich bei Gelegenheit daran erinnern.“
   Alex warf einen Blick auf ihr Diensthandy. Ein dumpfes „Klonk“ hatte soeben eine neue Nachricht angekündigt. Sie gab die Adresse der Pension in ihr Navi ein und rief ihre Oma an, die - wie erwartet – ihre Enttäuschung hinunterschluckte und ihr viel Erfolg bei den Ermittlungen wünschte. 
   Sie erreichte die Pension wenige Minuten später. Als sie den Seat parkte und die Autotür öffnete, schlug ihr die dunstige Augustluft entgegen. Die Luft flirrte in der Hitze. Die Schwüle und die dunklen Wolkentürme im Gebirge verkündeten ein bevorstehendes Gewitter. Theo war bereits da. Er lehnte betont lässig an der Mauer neben dem Haupteingang der Pension und telefonierte geschäftig. Als er Alex entdeckte, hob er lässig die Hand und bedeutete ihr, dass er nicht mehr lange brauchen würde. Trotz der Temperaturen trug er Sakko und Krawatte. Alex nickte ihm zu und betrat die Pension. Es roch muffig nach abgestandenem Kaffee und Zigaretten. Der Eingangsbereich war dunkel. Ein brauner Teppichboden dämpfte Alex´ Schritte. Sie blieb an der Rezeption stehen. Ein nahezu glatzköpfiger Mann saß, in die Kronen Zeitung vertieft, in einem Kunstledersessel. Ein enges Hawaiihemd spannte über seinem Bauch. Dazwischen quollen dicke Hautfalten hervor. Alex verzog den Mund und räusperte sich. Der Mann zuckte zusammen.
   „Ja, bitte?“
   „Alex Wild. Mordkommission.“
   Der Mann schmiss die Zeitung auf ein Kopiergerät im hinteren Teil der Rezeption und sprang auf. 
   „Walter Maurer“, erklärte er eifrig und streckte Alex eine kräftige Hand mit kurzen Fingern entgegen. „Ich habe angerufen. Wegen der Leiche.“
   Alex nickte nur, machte aber keine Anstalten, die Hand zu nehmen. Theo erschien neben ihr und ließ sein iPhone in die Innentasche seines Sakkos gleiten. 
   „Theo Bergmann“, stellte er sich vor und nahm die Hand des Mannes entgegen anstelle seiner Kollegin. „Ich hatte noch ein wichtiges Telefonat.“
   „Klar doch!“, murmelte Alex. „Mit einer vollbusigen Blondine vermutlich.“ Sie musterte ihren Kollegen von der Seite. Bevor er etwas erwiderte, wandte sie sich an Herrn Maurer: „Welches Zimmer?“
   Der Mann nickte eifrig und ging vor. „Das Zimmer ist oben. Wenn Sie mir folgen möchten.“
Die Luft in dem Raum war genauso muffig wie unten. Auf dem beigen Plüschteppich lag die Leiche eines Mannes mittleren Alters. Genau konnte sie es nicht abschätzen. Vom Gesicht war nicht viel übrig. Theo pfiff durch die Zähne und kniete sich neben den Toten.
   „Da hat jemand ganze Arbeit geleistet. Dürfte ein wenig dauern, bis wir wissen, wer das ist“, meinte Theo.
    „Waren Sie hier, als der Mann, der das Zimmer gemietet hat, angekommen ist?“, fragte Alex Herrn Maurer.
   „Ja. Ich bin praktisch immer hier.“ Er lächelte gequält. „Der Mann hat sehr spät eingecheckt.“
   „Dann haben Sie seine Daten?“
   Der Mann zögerte. Er fuhr sich mit der Hand über das Haupt, als fände er dort eine volle Haarpracht.
   „Ich habe seinen Namen“, erklärte er zaghaft.
    „Hat er Ihnen einen Ausweis gezeigt?“
   Herr Maurer presste die Lippen aufeinander. „Ich fürchte ...“
   Alex seufzte. „Das heißt, Sie haben keine Ahnung, wer dieser Mann ist.“
   Herr Maurer wand sich wie ein Fisch im Netz.  „Sie sind aber misstrauisch.“
Alex starrte ihn an. „Jahrelange Erfahrung. Offenbar war jemand hinter ihm her. War er allein?“
   „Ja. Er hat alleine eingecheckt.“
   Alex spazierte durch den Raum. Neben dem Kopf der Leiche glitzerte etwas Metallenes, das fast zur Gänze unter das Bett gerollt war. Es war eine kleine, aber schwere Metallstatue, an der eingetrocknetes Blut klebte. „Wenigstens haben wir die Mordwaffe. Mit etwas Glück finden wir daran brauchbare Fingerabdrücke.“
   „Die Spurensicherung ist gleich da“, erklärte Theo. „Paul hat sie unmittelbar nach Herrn Maurers Anruf angefordert.“
Alex ging zum Nachtkästchen und runzelte die Stirn. 
   „300 Euro. Und Sie sind sicher, dass der Tote kein Mädchen dabei hatte?“
   Herr Maurer schwitzte. „Das habe ich Ihnen doch gesagt. Er war allein. Wir sind kein Stundenhotel.“
   Alex lachte. „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber das ist ziemlich genau das, wofür diese Pension genutzt wird.“
   Herr Maurer schnaubte. Er trippelte von einem Fuß auf den anderen. Ein schrilles Klingeln unterbrach die angespannte Stille.
   „Ich mache auf. Wahrscheinlich ist das Ihre Spurensicherung“, erklärte Herr Maurer.
   Alex und Theo warteten, bis die Spurensicherung ihre Arbeit erledigt und alles dokumentiert hatte. Die Metallstatue wanderte für das Labor in einen Plastikbeutel. 
   „Hey, Alex!“, rief Lukas, ein Kollege der Spurensicherung. „Das solltest du dir mal ansehen.“
   Er hielt einen BH aus schwarzer Spitze in die Höhe, der in den Spalt zwischen die beiden Matratzen des Doppelbettes gerutscht war.
   „Wenn der nicht schon länger hier liegt, dann war unser Toter doch nicht allein hier“, schlussfolgerte Theo und zwinkerte Alex zu.
    „Ich will mir lieber nicht vorstellen, dass der schon länger hier liegt“, erwiderte Alex. „Das würde bedeuten, dass die Bettwäsche nicht regelmäßig gewechselt wird. Das wär echt grauslich.“
   Lukas grinste. „Was erwartest du, wenn du so ein Etablissement besuchst?“
   Alex verzog den Mund. „Hast du sonst noch was für uns, bevor wir uns verziehen?“
   Lukas nickte. „Ich kann euch sagen, wer unser Toter ist“, erklärte er und hielt ein Portemonnaie hoch, das der Mann in seiner Hosentasche bei sich trug.
Alex schlüpfte in ein Paar Plastikhandschuhe, unter denen ihre Hände sofort zu schwitzen anfingen. 
   „Stefan Vogt“, las sie vom Führerschein und runzelte die Stirn. Der Name sagte ihr etwas, aber sie kam nicht drauf, woher sie ihn kannte.
   „Das ist doch dieser Staranwalt“, warf Theo ein. „Der Typ vertritt nur die High Society in Salzburg. Unter 1000 Euro die Stunde führt der nicht einmal ein Telefonat.“
  „Jetzt jedenfalls nicht mehr“, schlussfolgerte Alex und fixierte das Geld auf dem Nachttisch mit den Augen. „300 Euro für eine Nutte sind für den Typen nicht einmal Trinkgeld.“
    „Da hast du Recht. Wir sollten dringend herausfinden, wen Stefan Vogt gestern getroffen hat.“
   Alex nickte geistesabwesend. In ihrem Magen rumorte es. Und nicht nur vor Hunger. Irgendetwas gefiel ihr hier ganz und gar nicht. Seit Jahren hatte sie immer wieder so etwas wie Vorahnungen. Sie hasste dieses Gefühl von nahendem Unheil. Noch mehr, weil es fast immer recht hatte.


 

Leseprobe "Der Schattenmann"


Sie lungerte auf ihrem Boxspringbett. Im Rücken das  Daunenkissen, gegen das sie sich lehnte. Die Musik dröhnte durch den kleinen Raum, prallte von den Wänden ab und knallte ungebremst auf ihre Ohren, so wie sie es liebte. Laut. Klar. Gellend. Es half ihr gegen die Leere, gegen das Nicht-Fühlen, einen Zustand, der sich schon so lange in ihr ausbreitete, dass sie nicht mehr wusste, wie es war, etwas Echtes zu fühlen. Sich zu fühlen. 

Watch me burn, summte sie leise mit Rihanna mit. I love the way it hurts.

Sie tastete nach der Holzschatulle auf ihrem Nachtkästchen, einer kleinen lackierten Kiste aus Birnenholz, das ihr Vater mit ihr gemeinsam gedrechselt hatte. Sie liebte die kleine Schachtel, in der sie ihre liebsten Gegenstände aufbewahrte, darunter eine Silberkette mit Herzanhänger, die ihr Vater ihr zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt hatte, ihre ersten Ballettschuhe und ein Brief ihrer besten Freundin Penny. Sie nahm eine Rasierklinge aus der Schatulle und hielt sie zwischen Zeigefinger und Daumen gegen das Licht ihrer Nachttischlampe. Der Strahl spiegelte sich in dem Metall. Sie kniff die Augen zusammen.

I love the way it hurts.

Sie legte die Klinge an ihren linken Unterarm und presste sie fest ins Fleisch. Sie ritzte die Haut auf, schnitt ins Unterfett, spürte die Wärme der Flüssigkeit, die über ihren Arm lief. Wie ein dicker roter Wurm schlängelte sich der Blutstrom über die Haut. Ein scharfer Schmerz. Sie japste nach Luft, atmete danach ein paarmal tief ein und ließ sich zurück in ihr Kissen sinken. Sie spürte sich. Sie fühlte den Schmerz, das Brennen ihrer Haut. I love the way it hurts.

Für einen Moment fühlte sie sich frei. Die Leere verkroch sich und hinterließ ein pulsierendes Pochen. Sie genoss es, zuzusehen, wie das Blut von ihrem Arm auf die Bettdecke tropfte. Vorsorglich hatte sie ein altes Handtuch untergelegt. Ihre Mutter würde die Blutflecken sonst bemerken und sich große Sorgen machen. Es war sicherer, wenn sie ihr Geheimnis nicht kannte. Manche Dinge blieben besser unausgesprochen. Sie wusste nicht, was er ihr oder ihrer Familie antun würde, wenn sie ihn verriet. Sie wollte es nicht wissen. Sie kannte ihn, wusste, wozu er fähig war. Einen Moment lang genoss sie den Schmerz. Er war wie eine Droge, die ihr für eine Weile Erleichterung verschaffte, die alles fortspülte. Leider hielt dieser Zustand nie lange an. Sie betrachtete die zahlreichen Narben auf ihrer Haut, die teilweise verblasst, teilweise verkrustet oder gerötet waren. Ein Meer an Versuchen zu entkommen, den Schmerz in ihrem Inneren zu betäuben. 

Eine Tür krachte. Ein Schlüsselbund schepperte. 

„Bist du zu Hause?“ 

Die Stimme ihrer Mutter drang gedämpft zu ihr. Sie drehte die Musik leiser, antwortete und wischte die Klinge an dem alten Handtuch ab, das sie rasch unter ihrem Kopfkissen versteckte. Die Rasierklinge warf sie hastig in die Schatulle, während sie den Ärmel ihres Pullis über ihre frische Wunde zerrte. Sie lächelte, als ihre Mutter ins Zimmer trat. Alles war in Ordnung, solange sie nichts wusste. Sie musste dafür sorgen, dass das so blieb.